Sehnsucht nach Owitambe
und war durstig. Jetzt, da er am Ziel seiner Reise war, verließ ihn plötzlich der Mut. Er war kein guter Ehemann und Vater gewesen. All die Jahre hatte er nur an sich und seine eigenen Wünsche gedacht. Sarah hatte es immer klaglos ertragen. Sie hatte es für die Familie getan, und er hatte alles leichtfertig aufs Spiel gesetzt. Die langen Stunden auf dem Pferderücken hatte er dazu genutzt, sein Leben Revue passieren zu lassen. Er war zu keinem guten Ergebnis gekommen. Er hatte den Kulturunterschied zwischen Sarah und sich immer ignoriert und selbstverständlich angenommen, dass seine Frau sich an seinen Lebensstil anpasste. Gewisse Bräuche und Rituale, die sie nie abgelegt hatte, hatte er zwar geduldet, aber innerlich belächelt. Genauso war er mit seinem Sohn verfahren. Selbstherrlich hatte er versucht, über dessen Leben zu bestimmen, obwohl der Junge schon früh andere Interessen gezeigt hatte. Johannes seufzte. Würden die beiden ihm je verzeihen können?
Die Frau zeigte mit dem ausgestreckten Arm in das Innere der Hütte und rief laut Vengapes Namen. Dann verschwand sie wieder zu ihren Tieren. Johannes stand unschlüssig vor dem niederen Eingang der Hütte. Er wagte nicht, ohne Einladung einzutreten; außerdem hatte er Angst vor dem, was jetzt kommen mochte. Er hoffte nur eines: dass seine Vermutung stimmte
und beide hier waren. Eine Frau, deren nackter Körper von rotem Butterfett glänzte, trat aus der Hütte. Es war nicht Sarah, dafür war sie viel zu jung. Das junge Mädchen hatte ihre Haare am Hinterkopf zu mehreren Zöpfen geflochten, was sie als heiratsfähige Frau auszeichnete. Sie musterte ihn von oben bis unten und sagte dann etwas, was Johannes nicht verstand. Sie wirkte traurig und enttäuscht. Ungeduldig bedeutete sie ihm, die Hütte zu betreten.
Im ersten Augenblick erkannte Johannes nichts. Das Innere der Hütte wurde nur von vereinzelten Lichtstrahlen, die durch Risse im Kuhdung fielen, erleuchtet. Als er sich einigermaßen an die Dunkelheit gewöhnt hatte, nahm er eine kniende Frau wahr. Er erkannte sie sofort. Sarah trug nur einen Hungergurt und zwei Lederschurze. Auf ihren Zöpfen trug sie eine Haube aus Lammfell, die Erembe, die sie als verheiratete Frau auswies. Erst jetzt sah er, dass sie sich über einen anderen Menschen beugte. Sein Herz krampfte sich zusammen und er spürte, wie ihm die Beine den Dienst versagten und er auf die Knie sackte. Mit der Gewissheit eines Vaters wusste er, dass sein Sohn dort lag.
»Ist … ist er tot?«, hauchte er. Er fühlte sich plötzlich all seiner Kraft beraubt.
Sarah, die sich bis dahin nicht umgedreht hatte, schüttelte fast unmerklich den Kopf.
»Ein Elefant«, sagte sie leise. »Er hat unseren Sohn schwer verletzt. Weder Mukuru noch die Ahnen wissen, wie lange er noch leben wird.«
»Es tut mir alles so leid!«, sagte Johannes hilflos. Und dann brach der Wall, der ihn so viele Jahre hart und unnachgiebig gemacht hatte, und er ließ seinen Tränen freien Lauf. »Ich möchte euch um Verzeihung bitten. Ich weiß, dass es zu viel verlangt ist, aber ihr sollt wissen, dass ich alles tun werde, um meine Fehler wiedergutzumachen. Oh, guter Gott, lass Raffael nicht sterben.«
Sarah schwieg, aber sie legte ihre Hand auf seine Schulter und streichelte ihn. Gemeinsam sahen sie auf ihren Sohn, der immer noch bewusstlos auf seinem Lager lag.
»Wir müssen einen Arzt holen. Er braucht unbedingt medizinische Hilfe.«
»Die Krankenhäuser der Weißen sind zu weit weg«, stellte Sarah nüchtern fest. »Rutako bekommt Hilfe. Eine Heilerin der Hakahona ist hier. Sie wird ihn gesund machen. Außerdem ist Wapenga zu den Gräbern unserer Ahnen gegangen. Er wird uns heute Abend sagen, ob die Ahnen ihn bei uns lassen werden oder nicht.«
Johannes widersprach nicht. Er wusste, dass sie recht hatte. Ihr Sohn war nicht transportfähig, also waren sie auf die Hilfe angewiesen, die die Heilkundigen im Kaokoveld ihnen bieten konnten. Das war ihr Schicksal.
Eine alte Frau betrat die Hütte und kniete sich neben Raffael. Im Gegensatz zu den Himbas trug sie einen Stoffschurz um ihre Lenden und war auch nicht mit Ocker bemalt. Sie musste die Heilerin sein. Sie trug einen rauchenden Tonkrug, der an ihrer Hand hing. Es roch nach Kräutern, die die Sinne benebelten. In konzentrischen Kreisen schwenkte sie den Krug über Raffaels Kopf und begann, einen monotonen Gesang anzustimmen. Sarah fiel mit ihrer warmen Stimme ein. Erst jetzt sah Johannes, dass die Heilerin die
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