Sehnsucht nach Owitambe
solche Schockzustände nur zu gut und hoffte nur, dass es noch nicht zu spät war. Immer wieder hatte sie mit ansehen müssen, wie Menschen sich in Anbetracht ihres Kummers selbst aufgaben. Sie musste Sonja dazu bringen, mit ihr zu gehen. Doch die weigerte sich mit heftigem Kopfschütteln und machte sich sofort wieder daran, die Wäsche in schnellen Bewegungen über das Waschbrett zu rubbeln.
»Sonja, Ihr Sohn wartet auf Sie«, versuchte es Jella. »Sie können ihn nicht alleinlassen.«
Sie umfasste die zarten, knöchernen Schultern und brachte sie dazu, von ihrer Tätigkeit abzulassen. »Kommen Sie mit mir. Alles wird gut. Benjamin braucht Sie!«
Sonja starrte weiterhin ausdruckslos vor sich hin. Immerhin
leistete sie nun keinen Widerstand mehr, sondern ließ sich ohne Gegenwehr von Jella wegführen. Die junge Frau war so schwach und abgemagert, dass sie im Missionskrankenhaus erst einmal aufgepäppelt werden musste. Sie war unfähig, selber zu essen, und musste wie ein kleines Kind unter gutem Zureden gefüttert werden. Schließlich fiel sie in einen komaähnlichen Schlaf. Als sie am nächsten Morgen aufwachte, stand Jella mit Benjamin auf dem Arm neben ihrem Bett. Der Kleine war wach und versuchte nach Jellas Locken zu greifen. Sonja sah ihren Sohn und drehte sofort den Kopf beiseite. Jella befürchtete schon, dass sie unfähig sein würde, ihr Kind zu lieben. So etwas kam immer wieder vor und hätte auch erklärt, weshalb sie ihr Kind weggegeben hatte. Sie beschloss zu gehen, um die junge Frau nicht weiter zu quälen. Kaum hatte sie die Tür erreicht, wurde sie zurückgehalten.
»Darf ich das Baby noch einmal sehen?« Ihre Stimme klang schwach und zögerlich. Jella legte den Kleinen sachte neben sie. Die junge Mutter wagte nicht, ihr Kind zu berühren. Sie stützte ihren Kopf auf und betrachtete es lange. Ihr Gesicht war immer noch maskenhaft und zeigte keine Regung, doch ihre Augen begannen zu glänzen. Benjamin strampelte neben ihr und musterte seine Mutter aufmerksam. Dann breitete sich ein Lächeln auf seinem runden Gesicht aus, das von einem munteren Glucksen begleitet wurde. Sonja zuckte zurück und wandte sich brüsk ab. Benjamin schien das nicht zu stören. Er fühlte sich wohl und grapschte mit seinen Händchen nach ihrem Arm. Auf die Berührung hin wandte Sonja ihren Kopf wieder ihrem Sohn zu. Tränen kullerten aus ihren starren Augenwinkeln. Langsam begannen sie den maskenhaften Gesichtsausdruck aufzuweichen, der nun einem ersten zaghaften Lächeln Platz machte.
Owitambe
Sobald Sonja einigermaßen reisefähig war, fuhr Jella mit ihr und dem kleinen Benjamin zurück nach Owitambe. Sie waren übereingekommen, dass sich die junge Mutter mit ihrem Kind erst einmal auf der Farm erholen sollte, bevor man weitere Pläne bezüglich ihrer Zukunft schmiedete. Der jungen Frau fiel es anfangs nicht leicht, sich um ihren Sohn zu kümmern. Immer wieder überwältigten sie Weinkrämpfe, und sie redete sich ein, dass sie eine Rabenmutter war.
»Ich wusste mir einfach keinen Rat«, klagte sie Jella immer wieder ihr Leid. »Kaum war Benjamin geboren, verlangte die Witwe Struse, dass ich endlich meine ausstehenden Mietschulden bezahlen sollte. Aber die Geburt hatte mich geschwächt. Ich hatte viel Blut verloren. Wie sollte ich mit einem Säugling Arbeit finden? Eine ganze Nacht irrte ich durch die Gassen, bis mir das Waisenhaus einfiel. Ich hatte von Frau Walter schon viel Gutes gehört. In meiner Not fiel mir keine andere Lösung ein, als meinen Jungen vor ihrer Haustür abzulegen. Ich hatte mich hinter einem Busch versteckt, um sicherzugehen, dass er auch gefunden wurde. Als Frau Walter ihn tatsächlich mitnahm, brach mir das Herz. Mir war alles genommen worden, was mich Monate zuvor am Leben gehalten hatte.«
Jella reagierte auf diese Ausbrüche mit ruhiger Besonnenheit. Sie sprach Sonja Mut zu und versicherte ihr unermüdlich, dass sie eine gute und verantwortungsvolle Mutter war. Durch die Sorge um ihren Jungen und die alltägliche Arbeit auf der Farm kehrte ihre Lebensenergie langsam wieder zurück. Jella hatte
Sonja bewusst Aufgaben übertragen, damit sie sich nicht als Bittstellerin fühlte. Gemeinsam mit Ricky machte sie sich im Garten nützlich und begann später stundenweise Jella in ihrem kleinen Lazarett zu assistieren.
Mittlerweile hatte sich in den umliegenden Dörfern herumgesprochen, dass auf Owitambe die weiße Medizinfrau wieder zurück war. Einige der älteren Dorfbewohner kannten Jella noch
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