Sehnsucht nach Owitambe
Knochen seines Sohnes gerichtet und das linke Bein sowie die linke Schulter mit Stöcken geschient hatte. Der monotone Gesang der Frau schwoll langsam an und wurde lauter und abgehackter. Plötzlich schrie sie und riss beide Arme hoch. Dann sackte sie zusammen.
»Rutakos Geist will nicht kämpfen«, sagte sie tonlos. »Seine Ahnen ziehen an ihm und haben ihn fast auf ihre Seite gezogen. Die nächste Nacht wird entscheiden, ob er lebt.«
Sie erhob sich schwerfällig. »Sein Vater muss eine junge Ziege töten. Er soll mir ihr Herz und die Eingeweide bringen. Sobald
es dunkel ist, muss er mit den Ahnen sprechen und sie bitten, seinen Sohn zurückkehren zu lassen.«
Johannes tötete die junge Ziege vorschriftsmäßig, indem er ihr die Gurgel abdrückte. Dann zog er ihr Fell ab und brach das Tier auf. Er weigerte sich, über den Sinn dieser heidnischen Prozedur nachzudenken. Für ihn war sie die einzige Hoffnung auf die Rettung seines Sohnes. Als er das Herz und die anderen Innereien sorgfältig auf den Ziegenbalg legte, trat Wapenga auf ihn zu. Er war von den Gräberfeldern der Ahnen zurückgekehrt. Sarah stand neben ihm und weinte. Johannes fuhr erschrocken auf.
»Geht es Raffael schlechter?«, fragte er mit angstbebender Stimme.
»Wapenga sagt, dass Rutako zu den Ahnen will. Er wird heute Nacht sterben.«
Johannes richtete sich auf. Er ballte seine Hände zu Fäusten und hob sie gen Himmel.
»Das werde ich nicht zulassen. Verdammt, das werde ich nicht zulassen!«
Jella und Lisbeth nahmen den kleinen Jungen mit sich zu dem Missionskrankenhaus, in dem Lisbeth seit vielen Jahren arbeitete. Auch wenn es sich nicht eindeutig beweisen ließ, war der Kleine für Jella Raffaels Sohn und damit ihr Neffe. Weil er so klein und zierlich war, nannte sie ihn Benjamin. Der Junge schlief viel, aber wenn er wach war, beobachtete er aufmerksam seine Umgebung. Jella trug ihn viel mit sich herum, um ihm möglichst viel Liebe zu geben. Weil es praktisch war, band sie ihn sich wie die Afrikanerinnen auf den Rücken. Dem kleinen Benjamin gefiel es. Auch wenn sich Lisbeth sicher war, dass Sonja nicht mehr in der Stadt weilte, wollte sie noch einmal gründlich nach ihr forschen. Sie hatte zunächst versucht, sich in Sonjas Situation zu versetzen. Was hätte sie an ihrer
Stelle getan? Wenn sie versuchte, bei der weißen Bevölkerung eine Anstellung zu finden, würde sich das schnell herumsprechen. Ihre Schwangerschaft war sicherlich nicht unentdeckt geblieben. Ohne Mann galt sie als ehrlose Frau. Ebenso unmöglich war es, bei den Schwarzen zu leben. Sie würden in ihren Homelands keine Weiße dulden. Auch glaubte Jella nicht, dass Sonja genügend Geld besaß, um Windhuk mit der Bahn zu verlassen. Sie war der festen Überzeugung, dass sie sich irgendwo dort verkroch, wo niemand nach ihrer Herkunft fragte. Lisbeth rümpfte die Nase, als Jella von ihrem Vorhaben erzählte.
»Du willst dich doch nicht etwa als verheiratete Frau bei Dieben, Betrügern und Huren umsehen«, schimpfte sie. »Denk doch mal an deinen Ruf.«
»Was kümmert mich mein Ruf?«, meinte Jella verächtlich. »Außerdem sehe ich nichts Verwerfliches darin. Schließlich bin ich Ärztin.«
Gleich am nächsten Morgen durchstöberte sie die heruntergekommenen Viertel am Stadtrand. Zuerst klapperte sie die billigeren Hotels ab. Als sie dort keine Anhaltspunkte fand, ging sie in die einfachen Pensionen. Als sie auch dort nicht fündig geworden war, versuchte sie es mit Privathäusern. Tatsächlich erhielt sie dort erste Anhaltspunkte dafür, dass sie auf der richtigen Spur war.
In einem einfachen Holzhaus, das kaum mehr als eine Hütte war, lebte eine hagere Witwe mit verbitterten Gesichtszügen. Jella hatte erfahren, dass sie hin und wieder ein Bett vermietete. Als sie dort nachfragte, erfuhr sie, dass eine junge Frau, auf die die Beschreibung Sonjas passte, tatsächlich einige Monate zuvor bei ihr untergekommen war.
»Die Frau hat wohl auch mal bessere Zeiten gesehen«, meinte die Witwe hämisch. »Die Kleidung war von guter Qualität, wenn auch schon ziemlich heruntergekommen, als sie hier auftauchte.«
»War die Frau in anderen Umständen?«, hakte Jella nach. Die Witwe musterte sie misstrauisch.
»Wieso wollen Sie das denn wissen?«, fragte sie. »Das geht Sie gar nichts an.«
»Die junge Frau gehört gewissermaßen zu meiner Familie«, erklärte Jella. »Ich will ihr helfen.«
»Das sah mir aber nicht so aus, als würde irgendjemand von der Familie sich für
Weitere Kostenlose Bücher