Sehnsucht nach Owitambe
nicht«, sagte Jella fest. »Wenn wir sie gefunden haben, kann sie erst einmal mit nach Owitambe kommen. Alles andere wird sich dann schon finden!«
»Sieh mal, da oben fliegen Geier«, sagte Tjireva. »Wir müssen die Ziegen zusammenhalten, damit sie die Kleinen nicht reißen!« Er rannte los und stieß dabei bestimmte Laute aus, um die weit umherstreunenden Ziegen wieder zu einer geschlossenen Herde zusammenzuführen. Sein Freund Kamasitu tat es ihm gleich. Doch ihre Vorsicht war unnötig gewesen, denn
die Aasvögel schienen ein ganz anderes Opfer im Blick zu haben.
»Ist es nicht seltsam, dass sie immer um die gleiche Stelle kreisen? Dort muss ein verletztes Tier liegen. Sicher warten die Geier nur, bis es stirbt.«
»Und wenn schon! Es ist eben sein Schicksal.«
Kamasitu zuckte gleichgültig mit den Schultern. Dann fiel ihm ein, was Wapenga gesagt hatte. Alle Hirten sollten Ausschau nach Rutako halten. Er war seit zwei Tagen nicht zurückgekehrt, obwohl seine Rinder noch bei der Onganda waren. Kein Hirte ließ seine Tiere so lange allein. Außerdem war seine Mutter Vengape aufgetaucht.
Tjireva schien soeben auf dieselbe Idee gekommen zu sein.
»Lass uns nachsehen«, schlug er vor. »Vielleicht ist es Rutako, und er braucht Hilfe.«
»Und was ist mit den Ziegen? Wapenga wird sehr wütend sein, wenn wir sie allein lassen. Ich habe eine bessere Idee. Du bleibst hier bei den Tieren, und ich hole Hilfe aus der Onganda!«
Kamasitu wartete nicht, bis sein Freund einverstanden war, sondern rannte sofort los.
Sie fanden Rutako am Rande der Wasserstelle. Sein geschundener Körper lag neben einem runden Felsen. Die Spuren verrieten, dass er von einem Elefanten verletzt worden war.
»Lebt er noch?«, fragte Kamasitu tief erschüttert. Vengape war bereits bei ihrem Sohn und versuchte seinen Puls zu ertasten. Er war flach und unregelmäßig, aber immerhin vorhanden. Sie nickte dem Jungen zu, aber Rutako war ohne Bewusstsein. Sein linkes Bein war unnatürlich abgewinkelt, und auch seine Schulter schien gebrochen zu sein. Rasch ordnete Vengape an, dass man ihrem Sohn Wasser brachte, mit dem sie seine aufgesprungenen Lippen benetzen konnte. Wapenga und Katondoihe standen bedrückt daneben.
»Steht nicht herum«, sagte Vengape scheinbar ruhig. Sie trug immer noch die Kleidung der Weißen, auch wenn sie schmutzig und zerrissen war. »Wir müssen eine Trage machen und ihn vorsichtig zur Onganda bringen. Gibt es eine Heilerin in der Nähe?«
Katondoihe nickte.
»Eine halben Tag Fußmarsch entfernt lebt eine Heilerin von den Hakahona. Sie ist sehr mächtig.«
Wapenga machte sich mit den beiden anderen daran, aus herumliegendem Holz eine Trage zu bauen, während Vengape versuchte, Rutako mehr Flüssigkeit einzuflößen. Währenddessen flüsterte sie ihrem Sohn beruhigende Worte zu.
»Komm zurück«, flehte sie. »Deine Flucht war falsch. Du bist kein Mörder, aber du bist ein Vater.«
Rutakos Augenlider begannen zu flackern und sich schließlich einen Spalt breit zu öffnen. Vengape wusste nicht, ob er sie erkannte, denn er sprach nur ein einziges Wort: »Sonja!«
Seine Augen glänzten vor Fieber und starrten an seiner Mutter vorbei in den tiefblauen Himmel, als hätte er dort etwas entdeckt.
Vengape wusste, dass ihr Sohn mit dem Tod rang, und begann zu weinen. So weit war sie gelaufen, um ihn zurückzuholen, und jetzt war alles zu spät. Als Katondoihe und Wapenga ihn vorsichtig auf die Trage hieven wollten, verlor er erneut das Bewusstsein.
Als Jella von Hakoma zurückkam, war ihr Vater spurlos verschwunden. Niemand hatte ihn davonreiten sehen. Er musste noch vor ihr aufgebrochen sein. Auf dem Tisch im Wohnraum lag ein kurzer Brief:
Liebe Jella!
Du hast mir die Augen geöffnet. Ich habe vieles falsch gemacht. Es
wird Zeit, dass ich versuche, meine Fehler wiedergutzumachen. Ich hoffe, es ist nicht zu spät!
In Liebe
Dein Vater
»Weißt du, wohin er geritten ist?«
»Ist das wirklich so schwer zu erraten?«
Fritz umarmte seine Frau zärtlich und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. »Johannes wird zu den Himbas ins Kaokoveld reiten. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass sowohl Sarah als auch Raffael dort sind.«
Jella erzählte ihrem Mann, was sie auf Hakoma erfahren hatte.
»Ich werde morgen gleich nach Windhuk telegrafieren und Lisbeth fragen, ob sie etwas über Sonja in Erfahrung bringen kann. Meine alte Freundin hat überallhin beste Kontakte. Vielleicht haben wir ja Glück!«
Wenige Tage
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