Sehnsuchtsland
Reitstall gewesen, weil sie es vermisst hatte, auf einem Pferderücken zu sitzen. Oder vielleicht hatte ihr auch einfach nur das herrliche Gefühl der Freiheit gefehlt, das sie jedes Mal überkam, wenn sie durch den Wald ritt.
Was auch immer es war, sie hatte es nicht wiedergefunden. Nicht bei den gelegentlichen Reitstunden in der kahlen Stockholmer Halle und auch nicht bei anderen Gelegenheiten. Irgendwann hatte sie es aufgegeben, danach zu suchen, und sie war auch nicht mehr zum Reiten gegangen.
Zu ihrer Rechten wurde der Wald lichter und gab den Blick auf den See frei. Sie ließ das Pferd in Schritt fallen und zügelte es dann, um die herrliche Weite der Landschaft besser betrachten zu können. Tief atmete sie die saubere, klare Luft ein und ließ sich erneut vom Zauber ihrer Umgebung gefangen nehmen. Diesmal wehrte sie sich nicht gegen die wohltuenden Gefühle, die dabei in ihr aufkamen. Sie genoss einfach nur die Wärme der Sonne auf ihrer Haut und den Wind in ihren Haaren.
Nach einer Weile gab sie die Zügel frei und schnalzte mit der Zunge, um das Pferd anzutreiben. Langsam ritt sie weiter bis zum Ufer des Sees, wo sie absaß und aufs Wasser hinausschaute. Das dichte Schilf wogte raschelnd im Wind, und die Sonne warf funkelnde Reflexe auf die Wasseroberfläche, Abermillionen leuchtende, tanzende Goldflecke. Lena erinnerte sich, dass sie sich als Kind tatsächlich eingebildet hatte, diese hüpfenden, blendenden Lichtpunkte seien eine Mischung aus Wasser und purem Gold. Möglich, dass auch Ingrid ihr das eingeredet hatte. Als sie beide klein gewesen waren, hatte sie sich gern den einen oder anderen Scherz mit Lena erlaubt. Die meiste Zeit hatte sie ihre jüngere Schwester beschützt und bemuttert, vor allem nach dem Tod ihrer Mutter. Aber Gott sei Dank hatten sie beide auch danach noch mehr als genug Zeit gehabt, einfach nur Kinder zu sein, wild, verspielt und ungezogen. Und vor allem in jeder freien Minute draußen an der Luft. Im Wald, beim See oder drüben auf der Koppel bei den Pferden. Im Sommer waren ihre Gesichter und Hände rot vom Beerensaft gewesen, im Winter vom Schnee und der eisigen Kälte.
Lena hob lauschend den Kopf und wandte sich um. Einen Moment lang war es ihr so vorgekommen, als hätte sie drüben im Wald ein Geräusch gehört. Doch sie sah niemanden.
Aus einem Impuls heraus wandte sie sich wieder dem Ufer zu und streifte eilig ihr Kleid ab, unter dem sie einen Bikini trug. Rasch legte sie die wenigen Meter zurück, die sie noch von der Böschung trennten. Sie beugte sich hinab und schöpfte mit beiden Händen Wasser, um ihr erhitztes Gesicht zu benetzen. Es war ein wunderbar erfrischendes Gefühl. Abermals ließ sie Wasser über ihr Gesicht und ihre Arme rinnen, als könne sie so nicht nur ihren Schweiß, sondern auch alle überflüssigen Gedanken wegwaschen.
*
Die Frau, von der Lena beobachtet worden war, war auf ihrem Rad nach Hause unterwegs gewesen, als sie Lena am Ufer gesehen hatte. Sie hatte so abrupt gebremst, dass beinahe die Tüte mit den Lebensmitteln aus dem Fahrradkorb gefallen wäre. Niemand hatte ihr sagen müssen, wer das dort drüben war. Kein Tag war in den letzten zehn Jahren vergangen, an dem sie nicht dieses helle Haar und das sanfte, madonnenhaft schöne Gesicht ihres Patenkindes vor sich gesehen hatte.
Übelkeit stieg in ihr auf, heftig und unerwartet. Der plötzliche Geschmack von Galle auf ihrer Zunge mischte sich mit Blut, weil sie sich unbemerkt auf die Zunge gebissen hatte.
Lena ist zurück, dachte sie. Sonst nichts. Nur immer wieder diese drei Worte. Ihr Körper war starr, ebenso wie ihre Augen. Sie bewegte sich keinen Millimeter, als Lena sich am Ufer kurz in ihre Richtung wandte und ihre Blicke suchend den Waldrand entlangglitten . Schließlich wandte sie sich wieder dem Wasser zu und zog eilig ihr Kleid aus. Diesen Augenblick nutzte die Frau im Wald, um ebenso rasch wie lautlos wieder aufs Rad zu steigen und so schnell sie konnte davonzufahren.
*
Magnus hatte mit seiner Einschätzung richtig gelegen. Er brauchte nicht mehr weit zu gehen, höchstens hundert Meter bis zum Waldrand. Und da war es. Marielund.
Fasziniert blieb er stehen, um den Anblick auf sich wirken zu lassen. Der rote Anstrich des Herrenhauses war im Laufe der Jahre zu einem warmen Rosa verblasst. Die an den Wänden emporwachsenden Kletterrosen und die Hecken ringsherum ließen das Haus wie ein verwunschenes Dornröschenschloss aussehen, so als befände sich Marielund in einem
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