Sehnsuchtsland
einen Unfall hattest«, meinte Lena eilig, bevor er etwas sagen konnte. »Ich bin so schnell wie möglich gekommen, und...«
»Und jetzt ist es nur eine gebrochene Schulter«, unterbrach Björn sie. Der Anflug eines Lächelns trat auf sein Gesicht.
Lena ging auf ihn zu, zuerst langsam, dann schneller.
»Gott sei Dank ist es nur eine gebrochene Schulter«, korrigierte sie ihn. Ihre Stimme klang unsicher. »Ich hatte schon befürchtet...« Sie brach ab und schaute ihn an, nahm jedes Detail seiner Erscheinung in sich auf. Ihr Vater hatte sich nicht sehr verändert in den letzten Jahren. Er war immer noch riesenhaft groß und kräftig, und sein Gesicht war sonnenverbrannt und gefurcht von der vielen Arbeit im Freien. Abgesehen von der Verletzung durch den Unfall wirkte er so vital wie eh und je.
»Wie geht es dir?«, fragte sie behutsam. »Hast du Schmerzen?«
Björn schluckte und zwinkerte kurz, so, als könne er plötzlich nicht mehr richtig sehen. »Glaubst du mir, wenn ich dir sage: Jetzt nicht mehr?« Mit der Rechten ergriff er ihre Hand. »Dass du gekommen bist... nach so vielen Jahren...« Er hielt inne und schüttelte kurz den Kopf, als er wie gegen einen inneren Widerstand mit belegter Stimme hinzufügte: »Ich weiß, wie schwer dir das fallen muss...«
Lena nickte geistesabwesend und sah sich unschlüssig um. Dann wandte sie sich wieder ihrem Vater zu. Seine Augen baten sie stumm um etwas, verzweifelt und dringlich, und sie hatte nicht die Kraft, es ihm zu versagen. Wem wollte sie länger etwas vormachen?
»Ach, Papa.«
Heftig schlang sie beide Arme um ihren Vater und presste sich an ihn, unfähig, das Schluchzen zurückzuhalten, das ihr mit einem Mal in die Kehle stieg.
Björn legte unbeholfen den gesunden Arm um seine Tochter. Er spürte ihren Herzschlag an seiner Brust und die Nässe ihrer Tränen. Hilflos überlegte er, dass er irgendetwas sagen sollte, was sie trösten könnte, doch ihm fiel nichts ein. Er war ja nicht einmal in der Lage, zusammenhängend zu denken! Nur daran, dass sie wieder da war. Dass sie hier war, bei ihm. Zu Hause.
Hinter ihnen beiden ertönte lautes Kindergeheul. Lasse kam aus dem Haus gestürzt, ein Wirbelwind mit flachsblondem Haar und rot verschmiertem Gesicht.
Er sah Lena und blieb stehen. » Hej . Bist du meine Tante?« Allem Anschein nach entschied er, dass sie es war, denn bevor sie antworten konnte, kam er auf sie zugerannt .
Hinter ihm tauchte Ingrid auf, ein nasses Tuch in der Hand. »Lasse, warte! Erst Mund abputzen!«
Lasse ignorierte den mütterlichen Befehl. »Tante Lena!«, rief er begeistert und ohne jede Scheu.
Lena, die sich ihm verblüfft zugewandt hatte, streckte impulsiv die Arme aus, um ihn aufzufangen. Im nächsten Augenblick war er auch schon bei ihr und drückte sich gegen sie. Lena hob ihn übermütig hoch und schwenkte ihn herum. »Du bist Lasse?«, rief sie scherzhaft. »Mann, bist du groß! Ich dachte, du bist noch ein Baby!«
Ingrid kam näher. »Lasse, du bist ein Ferkel«, rügte sie. »Jetzt sieh dir mal Lenas Jacke an. Kannst du deiner Tante nicht anständig guten Tag sagen?«
Lena stellte den Kleinen ab und schaute zu, wie ihre Schwester ihm den Mund abwischte.
Ingrid deutete mit dem Lappen auf die roten Flecke, die Lasse mit seinem verschmierten Gesicht auf Lenas Jacke hinterlassen hatte. »Tut mir Leid, Schwesterlein. In der Beerenzeit sollte man solche kleinen Ferkel nicht an sich ranlassen.« Sie grinste ihre Schwester offen an.
Lena lachte befreit und streckte ihr die Arme entgegen. Für einen Moment hielten sie einander umschlungen und kosteten die Wiedersehensfreude aus.
Lena dachte an die quälend lange Zeit, in der sie weder ihren Vater noch ihre Schwester gesehen hatte. Beide waren sie hin und wieder nach Stockholm gekommen, um den Kontakt nicht völlig abreißen zu lassen, doch mit den Jahren waren ihre Treffen seltener geworden. Die Entfernung war zu groß, die weite Reise zu aufwändig für diese kurzen Begegnungen. Meist hatten sie einander nur für ein paar kurze, befangene Stunden in Lenas beengtem Apartment beim Kaffee gegenübergesessen, in jeder Minute ängstlich darauf bedacht, nur kein Wort über die Vergangenheit zu verlieren.
Lena schaute sich um. »Ich muss mich umziehen. Wo werde ich schlafen?«
»In deinem Zimmer natürlich«, sagte Björn, allem Anschein nach erstaunt über ihre Frage.
Irritiert schaute Lena zuerst ihren Vater und dann ihre Schwester an. Beide taten so, als wäre sie nur mal eben
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