Sei dennoch unverzagt: Gespräche mit meinen Großeltern Christa und Gerhard Wolf (German Edition)
zu stellen. Ich mag ihr nicht zu nahetreten. Das Thema Tod spielt in all unseren Gesprächen kaum eine Rolle.
Am 1 . Dezember 2011 stirbt meine Großmutter. Kurz darauf stehe ich vor meinem Regal, dort im obersten Fach liegen die Werke meiner Großeltern. Seit 1988 sind einige Bände hinzugekommen. Ich sehe mir die Bücher an und lese noch einmal die kleinen Texte von meiner Oma darin, um mich auf die Trauerrede vorzubereiten. Zu ihrer Beerdigung hat mein Großvater eines der Lieblingsgedichte meiner Großmutter von Paul Fleming ausgesucht: »Sei dennoch unverzagt«.Dieses Buch trägt diesen Titel. Ich finde, er passt zu meinen Großeltern, und er trägt auch als Gedanke für ihre Enkel – trotz Schwierigkeiten und Widerständen weiterzumachen, nicht aufzugeben.
Zu Weihnachten 1988 schrieb mir meine Großmutter bedauernd in ihren Essayband Die Dimension des Autors : »So gebe ich mich widerwillig mit dem Gedanken zufrieden, wie vieles zu seiner Zeit Wichtige in jedem Leben auf Nimmerwiedersehen verlorengeht …« Etwas davon bleibt nun erhalten.
Berlin-Pankow, 22 . August 1998
Das erste Mal treffen wir uns in der Wohnung meiner Großeltern im Nordosten Berlins. Es ist früher Nachmittag, die Sonne scheint, die hohen Bäume des Amalienparks tauchen die Zimmer in schummriges Licht, werfen Schatten auf die Pflanzen, die Gemälde an der Wand und die Bücherregale, die bis zur Decke reichen. Wir sitzen im Wintergarten, es gibt Kuchen, Kaffee und Tee. Alle paar Minuten hören wir das laute Dröhnen der Flugzeuge im Landeanflug auf Tegel. Meine Großmutter hat auf einem Korbstuhl Platz genommen, sie trägt eine Seidenbluse, ihre schwarzen Haare reichen bis zum Kinn, neben ihr wartet mein Großvater; die Brille auf seine Nasenspitze gerückt, betrachtet er mich über die Gläser hinweg. Meine Großeltern sind fast siebzig, ich bin 25 . Gerade habe ich begonnen, als Journalistin zu arbeiten. Das Aufnahmegerät liegt vor mir, eines, das mit Kassetten funktioniert. Meine Großeltern schauen mich erwartungsvoll an, sie wissen nicht genau, was ich vorhabe. Ich hatte angekündigt, dass ich mit ihnen über ihr Leben sprechen will.
JS Ich weiß gar nicht viel über euch, über eure Vergangenheit.
CW Dann lies einfach Kindheitsmuster !
JS Das habe ich. Aber da steht nicht alles drin, und ich würde es gern von euch hören.
GW Ich wollte mit deinem Cousin Anton 1 dieses Jahr nach Thüringen, nach Bad Frankenhausen zur 1000 -Jahr-Feier fahren und ihm meine alte Heimatstadt zeigen, aber wir haben keine Zeit. Damals, als ich ein Junge war, hatte Bad Frankenhausen 8000 Einwohner, ein Sole-Schwimmbad, ein Heim für Asthmakranke, das nach dem Krieg ein Kinderheim war und von Christas Vater, Opa Ihlenfeld 2 , geleitet wurde. Bei Frankenhausen gibt es den berühmten Schlachtberg, wo 1525 die aufständischen Bauern besiegt wurden.
Mein Vater war in der Partei gewesen und Buchhalter beim Reichskriegerbund. Nach dem Krieg durfte er nicht mehr in seinem Beruf arbeiten. Er musste auf einer Domäne in der Landwirtschaft helfen. Die brauchten Arbeiter, und die kleineren Nazis wurden dorthin geschickt. Danach kam er in eine Knopffabrik, Knöpfchen drehen, später wurde er dann wieder Buchhalter.
JS Wie war das für dich, dein Vater war NSDAP -Mitglied, und du warst nicht in der Hitlerjugend, oder?
GW Doch. Im Gegensatz zu Christa war ich aber kein begeisterter Hitler-Anhänger. Ich passte nicht in die Hitlerjugend. Damit verknüpfe ich eher traumatische Erinnerungen: Einmal führte uns der Fähnleinführer ins Schwimmbad und warf alle Nichtschwimmer einfach ins Wasser, wo sie absoffen. Die Fähnleinführer, das waren große, kräftige Kerle, und ich war ein kleiner, dünner, blonder Junge. Manche lernten dann mit Eifer schwimmen, aber ich weigerte mich, hatte so eine Abwehrhaltung, die sich noch verstärkte, als mein Vater im Krieg wieder heiratete. Meine Mutter war 1938 an Brustkrebs gestorben, da war ich zehn. Und mein Vater hatte seine neue Frau Felicitas, genannt Feechen, durch einen Feldpostbrief kennengelernt. Das war eine richtige Nazi-Frau, sie trug das goldene Sportabzeichen und wollte mich auch gleich wieder zum Schwimmen schleppen. Aber ich machte nicht mit.
JS Was hat dein Vater gearbeitet?
GW Mein Vater gehörte wie Opa Ihlenfeld zu den Jahrgängen, die noch im Ersten Weltkrieg gekämpft hatten. Er war ganz jung und Kriegsfreiwilliger gewesen. Dann fiel ihm
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