Sei dennoch unverzagt: Gespräche mit meinen Großeltern Christa und Gerhard Wolf (German Edition)
lang politisch einmischten, mitmischten.
Beim Verfassen der Anmerkungen für dieses Buch bemerkte ich, wie viele Bekannte, Freunde oder Kollegen meiner Großeltern unter dem Nationalsozialismus gelitten hatten, entweder im KZ , im Exil oder im Widerstand gewesen waren und wie viele von ihnen danach in der DDR wieder in große Konflikte gerieten. Diese Kämpfe der Vergangenheit, wie sich Schriftstellerkollegen, Freunde, enge Vertraute gegenseitig anfeindeten, aus ideologischen Gründen, sind für mich Nachkommende in ihrer Radikalität und Existentialität kaum noch zu begreifen.
»Du warst unser erstes Enkelkind, ich ging mit Dir in Kleinmachnow spazieren, Du hattest eine Schaukelmanie, hängtest Dich an jede Stange: Laukeln, Laukeln!«, schrieb meine Großmutter 1988 auf die ersten Seiten von Kindheitsmuster über die frühen siebziger Jahre. Im Prinzip nehmen diese kleinen Textstücke unser späteres Projekt vorweg. Es sind Versuche, Erfahrungen für die nächste Generation zu bewahren. Erinnerungsfetzen.
Ich sehe meine Großeltern in Neu-Meteln in ihrem Mecklenburger Sommerhaus, das sie ausgebaut haben. Ich bin vielleicht drei, vier Jahre alt, trage rote Gummistiefel und fürchte mich vor den vielen Schmetterlingen im Hof. Meine Oma schreibt auf einem Podest unter dem Dach, von ihrem Tisch blickt sie auf die Obstbäume im Garten, ein idealer Arbeitsplatz. Mein Opa sitzt ein Stockwerk darunter neben dem Kamin und tippt auf seiner Schreibmaschine. Abends kommen Freunde zu Besuch, wir essen an langen Tafeln. Unbeschwerte, heiße Sommer. Scheinbar. 1983 brannte das Haus in Neu-Meteln ab.
Ich erinnere mich, wie ich ihnen einmal mit zehn ein etwas pathetisches Gedicht schenkte mit dem Titel »Wozu lebt man«, das nur aus Fragen bestand. Meine Großeltern zeigten sich begeistert. Es war das erste Mal, dass ich die bestärkende Kraft des Geschriebenen spürte.
Als Teenager besuchte ich in den achtziger Jahren oft mit Freunden ihre Wohnung in der Berliner Friedrichstraße. Meine Eltern besaßen einen Schlüssel. Meist waren meine Großeltern nicht da, aber sie hatten einen Videorekorder und das berühmte Schubfach in einer Kommode, gefüllt mit Schokolade. Sie waren stets sehr beschäftigt, keine Großeltern, die auf ihre Enkel mit Pudding und Kuchen warteten, obwohl besonders mein Großvater bis heute ein grandioser Gastgeber ist.
Unvergessliche Momente: der Blick meines Großvaters, als er entdeckte, dass eine meiner Freundinnen in Michael-Jackson-Bettwäsche schlief. Die erste gemeinsame Westreise mit meinen Großeltern 1990 nach Brüssel und Amsterdam. Der Sommer 2001 , in dem ich bei ihnen im neuen Sommerhaus Woserin mein erstes Buch schrieb über einen Freund, der sich das Leben genommen hatte. Ihre goldene Hochzeit, zu der sie sich von mir eine Eismaschine zur Herstellung von »Eisschnee« wünschten, um ihren Lieblingscocktail Margarita zu vervollkommnen. Die vielen Tabletten auf dem Frühstückstisch meiner Großmutter und das zunehmend besorgte Nachfragen meines Großvaters nach ihrem Befinden. Meine Tochter Nora, ihr erstes Urenkelkind, bei ihnen im Pankower Wohnzimmer, meine Großmutter singt: »Wie das Fähnchen auf dem Turme«. Die diamantene Hochzeit im Sommer 2011 , die unanfechtbare Beziehung meiner Großeltern, noch einmal versammelt sich die Familie in Woserin. Jeder erzählt eine Geschichte über sie.
Im Herbst 2011 besuche ich meine Oma im Krankenhaus, als es ihr schon sehr schlecht geht. Es ist ein schöner, warmer Tag. Sie liegt im Bett, zur Unselbständigkeit gezwungen, und hält das Zeit -Magazin mit einem Artikel von mir über Los Angeles in der Hand. In dieser Stadt hat sie in den Jahren 1992 / 93 einmal gelebt, und ich wohnte dort mit meiner Familie 2010 / 2011 . Meine Großmutter fragt nach, hat Formulierungen unterstrichen, die ihr gefallen. Wir nehmen uns vor, einmal ausführlicher über die USA , über Los Angeles zu reden, ein letztes Gespräch. Dazu kommt es nicht mehr.
Am Ende meines Besuches sagt sie, die Familie wünsche, dass sie sich bemühe weiterzuleben, sie wisse aber nicht, ob sie noch könne. Darauf kann ich nichts erwidern. Natürlich möchte ich, dass sie versucht weiterzuleben, aber ich möchte auch nicht, dass sie sich weiter quälen muss in einer Existenz, die ihr nicht mehr entspricht. Meine Oma lächelt mich an. Gern hätte ich sie gefragt, was ihr durch den Kopf geht, denkt sie an den Tod? Und wenn ja, was? Hat sie Angst? Ich traue mich nicht, diese letzten Fragen
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