Sein anderes Gesicht
melden. Er überzeugt sich davon, dass ich nicht an der Nadel hänge. Er fragt mich, ob ich noch Arbeit suche, ob ich auch schön meine Papiere ans Arbeitsamt schicke, ob ich zufrieden bin, aus dem Knast zu sein, ob ich mich um mich kümmere . Mein Bewährungshelfer ist ein Spaßvogel. Höflich tische ich ihm immer ein paar Märchen auf. Ich bin vorzeitig entlassen worden, zwei Jahre früher.
Manchmal denke ich an den Kerl, den ich umgebracht habe. An sein Gesicht, als er spürte, wie das Messer in sein Fleisch drang. Ich wollte es nicht tun. Er sagte, er würde mich mit einem abgebrochenen Flaschenhals entstellen. Er war viel stärker als ich und zerquetschte mich förmlich. Ich habe nach dem Messer auf dem Tisch gegriffen, ein ganz gewöhnliches Messer, ich hätte nie gedacht, dass man damit jemanden umbringen kann, aber … Sie haben gesagt, ich hätte die Leber verletzt. Der Wirt der Kneipe hat zu meinen Gunsten ausgesagt.
Es war das erste Mal, dass ich jemanden umgebracht habe. Während die Bullen hereinstürmten und rumbrüllten, sah ich, wie seine Augen glasig wurden. In meiner Zelle habe ich oft an diesen Augenblick denken müssen. Ich hätte gerne diesen Blick mit meinen Händen gegriffen und den Mann ins Leben zurückgeholt, so wie man jemanden aus dem Wasser zieht. Das habe ich auch dem Psychiater gesagt, aber ich vermute, er hat mir nicht geglaubt.
Das Polizeirevier. Die französische Flagge hängt schlaff im Nieselregen. Ich öffne die Tür und grüße den wachhabenden Beamten, der mir nicht antwortet. Dann gehe ich an einigen Polizisten vorbei, die übernächtigt und griesgrämig scheinen. Auf einer Bank warten schlecht rasierte Typen. Ich nehme den Aufzug, dessen Aschenbecher überquillt. Vierter Stock. Schreibmaschinengeklapper. Polizisten in Zivil rennen hektisch über den Gang. Ich gehe zu meiner Tür, Zimmer 38, und frage mich, was hier los ist. Ich klopfe an, keine Antwort. Ich klopfe noch mal. Nichts. Dann drücke ich die Klinke hinunter, aber die Tür ist abgeschlossen. Verblüfft sehe ich mich um. Die Wanduhr zeigt 9.15 Uhr an. Schließlich erblicke ich Mossa, der am Wasserspender trinkt. Er hebt den Kopf und sieht mich.
»Du bist umsonst gekommen!«, ruft er mir zu, während er sich mit dem Ärmel seines senfgelben Sweatshirts den Mund abwischt.
»Ich hatte drei Kilometer Fußweg!«
Eine böswillige Übertreibung, es waren höchstens achthundert Meter.
»Du kannst einem direkt Leid tun«, höhnt Mossa.
Mürrisch deute ich mit dem Daumen auf die Tür und erkläre:
»Er könnte wenigstens Bescheid sagen!«
»Das dürfte ihm einigermaßen schwer fallen. Er liegt im Krankenhaus, und man versucht, ihn wieder zu beleben.«
Ich betrachte Mossa, um herauszufinden, ob das ein Scherz sein soll. Er lacht übertrieben und entblößt seine weißen Zähne.
»Er ist halb tot, verstehst du? Man hat ihn vor zwei Stunden zu Hause gefunden. Genauer gesagt, seine Exfrau, die heimlich den Fernseher abtransportieren wollte. Sie hatte einen Schlüssel behalten und dachte, er sei bei der Arbeit . Vorsorglich hat sie geklingelt, keine Antwort, also geht sie rein und … welche Überraschung! Der gute Derek lag mit verdrehten Augen auf dem Küchenboden. Er hat versucht, sich umzubringen, indem er am Gasschlauch genuckelt hat«, schließt er seufzend.
»Verdammte Scheiße«, sage ich automatisch.
»Du sagst es. Da er zu viel Umgang mit Leuten wie dir hatte, muss er sich gesagt haben, dass das Leben letztlich nichts anderes ist als ein Riesenhaufen Scheiße.«
Ich zucke die Schultern. Mossa ebenfalls. Ende der Grabrede. Als ich mich an unser morgendliches Treffen erinnere, füge ich hinzu:
»Ich dachte, Sie wollten nach Hause und schlafen.«
»Ich wollte, aber dann hat man mich zu einer Identifikation gerufen. Man hat wieder eine gefunden …«, entgegnet er, während er in seinen roten Lederblouson schlüpft.
»Wieder was?«
»Eine Hure. Tot.«
Ich verstehe nicht.
»Mit Derek zusammen hat sich eine Hure umgebracht?«
»Du solltest bisweilen mal eine Gehirnspülung machen, meine Kleine! Man hat wieder eine Frau gefunden. Ermordet, verstümmelt!«
Ich fröstele. Das gefällt mir gar nicht. Die Erste, das war vor ungefähr zwei Monaten. Eine Frau von etwa vierzig Jahren, eine Russin, zerstückelt auf dem Parkplatz des Supermarktes Intermarche. Eine abartige Geschichte. Da sie anschaffen ging, hatten wir alle zwei Wochen lang Angst, na ja, und dann . Mossa hielt es für das Werk eines Wahnsinnigen,
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