Sein anderes Gesicht
KAPITEL 1
»Johnny, kann ich mitkommen?«
»Hau ab.«
»Bitte, nimm mich mit!«
Er seufzt und sieht mich an, als wäre ich der letzte Dreck. Ich möchte über seine unrasierten Wangen streichen, aber ich weiß, wenn ich die Hand nach ihm ausstrecke, wird er mich schlagen.
»Johnny, nur eine Stunde oder zwei, dann setzt du mich ab, wo du willst.«
»Verflucht noch mal, Bo! Hast du nichts anderes zu tun?!«
Seufzend öffnet er die Wagentür. Ich schmiege mich in den Sitz, halte mich am Türgriff fest und stütze mich mit meinen Luftkissenturnschuhen am Armaturenbrett ab. Der Toyota fährt mit quietschenden Reifen an. Ich atme den Geruch seines Wagens ein - Johnnys Geruch: Aftershave, Zigaretten, Leder, Cheeseburger, Metall.
Johnny fährt schweigend. Aus den Augenwinkeln sehe ich ihn an. Gerne würde ich mit meinen rot lackierten Nägeln über seinen geraden Nasenrücken fahren, über die dunklen Ringe unter seinen hellen Augen, ich möchte die tiefen Falten um seinen vollen Mund auslöschen, durch sein blondes, kurz geschnittenes Haar streichen. Johnny. Im Geist flüstere ich seinen Namen: Johnny, Johnny …
Er streckt die Hand zum Radio aus, ein mit hellem Flaum überzogenes Handgelenk, lange, schlanke Pianistenfinger, die jetzt auf den Knopf drücken, dann dröhnt diese widerwärtige Musik von Metallica durch den Wagen. Er dreht den Ton lauter.
Ich hasse Hardrock. Ich hasse Lärm. Ich möchte am Meer entlangfahren und Erroll Garner hören. Er fährt über die Schnellstraße, die an der Bahnlinie entlang und mitten durchs Industriegebiet führt. Superromantisch. Er bremst, und wir kommen in der Nähe einer Bushaltestelle zum Stehen. Johnny kurbelt die Scheibe runter. Dieses Miststück Ida mit dem dicken Hintern kommt angewackelt. Ich bete, dass Johnny nur hergekommen ist, um Stoff zu besorgen. Er wedelt mit einem Geldschein herum. Sie beugt sich zu ihm hinunter, nimmt den Schein und reicht ihm einen Beutel. Er tätschelt ihr die Wange, vielleicht etwas zu fest. Wir fahren weiter.
Wir halten auf dem Parkplatz eines Einkaufszentrums. Er zieht seine Linie, während ich aufpasse. Mir bietet er nichts an. Er wartet, dass ich frage. Ich werde nicht fragen. Er schnieft mit einem widerwärtigen kleinen Lächeln und schiebt die Zunge zwischen die Lippen. Ich wende den Kopf ab. Er packt mich bei den Haaren, ich widersetze mich absichtlich, er zieht noch heftiger, ich widersetze mich noch mehr. Er legt die Lippen an mein Ohr, ich erschaudere.
»Weißt du was, Bo?«, sagt er. »Ich glaube, du wirst aussteigen.« »Nein, bitte.«
»Ich glaube, du wirst aussteigen und zu den Typen da hinten gehen.«
Er drückt den ausgestreckten Zeigefinger an meine Wange und zwingt mich, den Kopf zu drehen. Neben einem blauweiß gestrichenen Lagerschuppen steht eine Gruppe Halbstarker, um sich herum haben sie ihre Mofas aufgebaut, hinter denen sie sich verschanzen wie einst die Pioniere hinter ihren Wagen. Der Widerhall ihrer großen Ghettoblaster und ihres albernen Gelächters dringt zu uns herüber.
»Du wirst sie für mich um eine Zigarette bitten.«
»Johnny! Die machen mich fertig.«
»Willst du den Abend mit mir verbringen? Willst du?«
Er öffnet die Tür und stößt mich hinaus. Ich falle auf die Knie. Die Jungen drehen sich um. Einer ruft mir zu:
»He, komm her, Kleine.«
Johnny zündet sich in aller Seelenruhe eine Zigarette an. Er hat eine Knarre im Handschuhfach, eine Pistole. Mit der Hand scheucht er mich in ihre Richtung. Ich stehe auf, zupfe mein ausgeschnittenes T-Shirt unter der Jeansjacke zurecht und bewege mich mit wiegenden Hüften auf sie zu. Die Jungs kichern. Das lange braune Haar fällt mir ins Gesicht, ich werfe es mit einer Bewegung zurück, die Johnny rasend macht.
Jetzt bin ich ganz in der Nähe der Gören: vierzehn bis sechzehn Jahre alt sind sie, ein Alter, in dem blinde Leidenschaft jegliches Mitgefühl auslöscht. Ich sehe ihre erheiterten Mienen, sie sind voll wie die Haubitzen, stockbesoffen. Ein Geruch nach Leim, Ausdünstungen von Bier.
Ein kleiner Kerl von ungefähr sechzehn Jahren, die Arme, die an Baseballschläger erinnern, in die Hüften gestemmt, kommt auf mich zu. Sicherlich ihr Anführer.
»Na, was will die Kleine? Hat sie sich verlaufen?«, bellt ein großer Dunkelhaariger mit aknevernarbtem Gesicht.
Dummes Gelächter. Ich wende mich an den Mini-Chef, der mir gegenübersteht:
»Könnte ich bitte eine Zigarette haben?«
Angesichts solcher Kühnheit sprachlos, sehen sie sich an.
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