Sein Bruder Kain
berührte ganz sanft mit den Fingern seine kalte Wange, als könnte er sie spüren. »Gott schenke ihm Ruhe und Frieden«, flüsterte sie.
Der Leichenbeschauer nickte, und Hester ging mit ihr hinaus. Einige Augenblicke später kehrte sie mit Genevieve zurück. Wieder zog der Aufseher das Laken zurück. Auch Genevieve sah unverwandt in das ruhige Gesicht mit den geschlossenen Augen und auf den weißen Oberkörper mit seinen Narben.
Schließlich füllten ihre Augen sich mit Tränen, die ungehemmt über ihre Wangen strömten; das Mitleid, das in ihr aufwallte, durchdrang sie mit einem Schmerz, wie sie ihn niemals würde vergessen können.
»Ja«, flüsterte sie so leise, daß man es an keinem anderen Ort als diesem Raum des Todes hätte hören können. »Ja, das ist Angus. Ich kenne diese Narben, wie ich meine eigene Hand kenne. Die meisten von ihnen habe ich selbst verbunden. Ich bete, daß Gott seine Seele wieder gesund macht und ihm endlich Frieden schenkt.« Sie drehte sich um, und Hester hielt sie in ihren Armen, während sie um all den vergangenen Schmerz weinte, den sie nicht lindern konnte, das Kind, das sie nicht erreichen konnte.
»Ich werde eine Mordanklage gegen Ravensbrook anstrengen«, sagte Rathbone leidenschaftlich.
»Sie werden es ihm nie nachweisen können«, entgegnete Monk.
»Das spielt keine Rolle!« Rathbone biß die Zähne zusammen, und sein ganzer Körper versteifte sich. »Die Anklage wird ihn ruinieren. Das reicht.«
Monk beugte sich vor und ergriff die Hand des Toten. Es war eine schöne, perfekt manikürte Hand, und er wußte jetzt auch, warum Caleb immer Handschuhe getragen hatte - um Angus' Hände zu schützen. Vielleicht konnte niemand sonst in dem Raum so aufrichtig und mit so tief empfundenem Mitleid nachfühlen wie er, was es für einen Menschen bedeutete, gespalten zu sein, auf ewig in der Furcht vor einer dunklen Seite in ihm, die er nicht kannte, leben zu müssen.
»Ruhe in Frieden«, sagte er. »Die Schulden, die du nicht mehr bezahlen konntest, werden wir für dich begleichen.«
Buch
Das viktorianische London erstrahlt in vollem Glanz, das britische Empire beherrscht die Welt. Den Preis zahlen jene, die in den Armenvierteln vegetieren. Privatdetektiv William Monk kennt Licht und Schatten, doch als eines Tages die ebenso schöne wie vornehme Genevieve Stonefield zu ihm kommt, ahnt er nicht, welche Abgründe sich vor ihm auftun werden. Genevieve sucht verzweifelt ihren Mann Angus.
Monks Nachforschungen fördern schon bald unstandesgemäße Affären, vertuschte Fehltritte und infame Intrigen zutage. In der von Fieber und Typhus glühenden Stadt macht er sich auf die schier aussichtslose Suche nach dem mysteriösen Zwillingsbruder und dessen dunklem Geheimnis.
Autorin
Die Engländerin Anne Perry, 1938 in London geboren, verbrachte einen Teil ihrer Jugend in Neuseeland und auf den Bahamas. Schon früh begann sie zu schreiben. Ihre historischen Kriminalromane zeichnen ein lebendiges Bild des spätviktorianischen England und begeistern mittlerweile ein Millionenpublikum. Anne Perry lebt und schreibt in Schottland.
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