Sein Bruder Kain
Stonefield sprach mit leiser Stimme weiter. »Mein Mann und ich sind jetzt seit vierzehn Jahren verheiratet, Mr. Monk, und ich kenne ihn noch ein Jahr länger. Er war immer der denkbar sanfteste und rücksichtsvollste Mann, ohne den Eindruck zu vermitteln, daß es ihm an der notwendigen Festigkeit mangelte. Was er auch tat, er war in jeder Hinsicht ein Ehrenmann, sei es privat, sei es beruflich; nie hat er versucht, andere zu übervorteilen oder ihr Mißgeschick für seine Zwecke auszunutzen.« Sie hielt inne, denn sie begriff - vielleicht, weil sie es in Monks Gesicht las -, daß sie zuviel redete. Er hatte es noch nie vermocht, seine Gefühle zu verbergen, besonders wenn es sich dabei um Ungeduld, Zorn oder Verachtung handelte. Dieses Unvermögen hatte ihn so manches Mal in Verlegenheit gebracht.
»Haben Sie den Verdacht, daß sein ansonsten so makelloser Charakter in irgendeiner Hinsicht doch zu wünschen übrig lassen könnte, Mrs. Stonefield?« fragte er mit soviel Anteilnahme, wie er zu heucheln imstande war. Langsam kam ihm der Gedanke, daß sich hinter ihrem interessanten Gesicht möglicherweise ein ausgesprochen uninteressanter Geist verbarg.
»Nein, Mr. Monk«, sagte sie ein wenig schärfer. Ihre Angst ließ ihre Augen plötzlich eine Spur dunkler erscheinen. »Ich fürchte, daß man ihn getötet hat. Ich möchte, daß Sie das für mich herausfinden.« Trotz der Verzweiflung in ihrer Stimme sah sie ihn nicht an. »Nichts, was Sie tun können, wird Angus jetzt noch helfen«, fuhr sie leise fort. »Aber da er verschwunden ist, ohne irgendeine Spur zu hinterlassen, geht das Gesetz davon aus, daß er uns einfach verlassen hat. Ich habe fünf Kinder, Mr. Monk, und Angus' Geschäft wird ohne ihn schon bald nichts mehr zu unserem Lebensunterhalt beitragen können.«
Plötzlich war die Angelegenheit sehr real und von echter Dringlichkeit. Er sah in ihr nicht länger eine schwatzhafte Frau, die großes Aufheben um irgendwelche nichtigen Anlässe machte. Es gab guten Grund für die Furcht in ihren Augen.
»Haben Sie sein Verschwinden der Polizei gemeldet?« fragte er.
Sie sah ihm flüchtig in die Augen. »O ja. Ich habe mit einem Sergeant Evan gesprochen. Er war sehr freundlich, aber er konnte nichts tun, um mir zu helfen; ich kann ja nicht beweisen, daß Angus nicht aus freien Stücken weggegangen ist. Von Sergeant Evan habe ich übrigens auch Ihren Namen.«
»Aha.« John Evan war sein treuester Freund gewesen, als er selbst in Schwierigkeiten steckte, und er würde diese Frau nicht wegschicken, bevor er ihr nicht geholfen hätte. »Wann haben Sie Ihren Mann das letztemal gesehen oder von ihm gehört, Mrs. Stonefield?« fragte er ernst.
Der Schatten eines Lächelns huschte über ihre Züge und war sogleich wieder verschwunden.
»Vor drei Tagen, Mr. Monk«, sagte sie gefaßt. »Ich weiß, das ist noch nicht lange, und er war auch früher manchmal auswärts unterwegs, sogar für längere Zeit, manchmal bis zu einer Woche. Aber diesmal ist es etwas anderes. Sonst hat er mich immer von seiner bevorstehenden Abwesenheit unterrichtet, uns die nötigen Mittel hinterlassen und natürlich Mr. Arbuthnot, der sich unterdessen an seiner Stelle ums Geschäft kümmerte, genaue Anweisungen gegeben. Er hat noch nie einen Termin versäumt oder es unterlassen, Mr. Arbuthnot mit Vollmachten und Instruktionen auszustatten, damit dieser in seiner Abwesenheit weiterarbeiten konnte.« Sie beugte sich vor, ohne sich des erfreulichen Anblicks, den sie mit ihren hochgerutschten Rockreifen bot, bewußt zu sein. »Er hat nicht damit gerechnet, länger fortzubleiben, Mr. Monk, und er hat sich bei niemandem gemeldet!«
Sie erweckte großes Mitgefühl in ihm, und ihr war jetzt am besten gedient, wenn er so viel wie möglich über den Fall in Erfahrung brachte.
»Zu welcher Tageszeit haben Sie ihn das letzte Mal gesehen?« fragte er.
»Beim Frühstück, etwa gegen acht Uhr morgens«, erwiderte sie. »Das war am achtzehnten Januar.«
Heute war der einundzwanzigste.
»Hat er gesagt, wo er hingehen wollte, Mrs. Stonefield?«
Sie holte tief Luft, und er sah, wie ihre gefalteten Hände in den sauberen weißen Handschuhen sich auf ihrem Schoß verkrampften. »Ja, Mr. Monk, er ist von uns aus direkt ins Geschäft gegangen. Dort hat er dann Mr. Arbuthnot mitgeteilt, er wolle seinen Bruder besuchen.«
»Hat er das häufig getan?« fragte er. Der Besuch bei dem Bruder schien kein besonders bemerkenswertes Vorkommnis zu sein.
»Er hatte die
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