Sein Bruder Kain
bereiten mußte, und ihre Ansicht, daß Ravensbrook ihn für seinen Verlust entschädigen werde. Als sie all das, ohne zwischendurch Luft zu holen, erklärt hatte, machte sie sich daran zu beschreiben, wie Ravensbrook auf die Behandlung reagiert hatte. Gegen halb eins hatte sie immer noch nicht den Zeitpunkt erreicht, an dem sie durch die Zellentür getreten war und die Leiche von Caleb Stone gesehen hatte.
Der Leichenbeschauer vertagte die Sitzung auf den Nachmittag und zog sich erschöpft zurück.
»Brillant, wenn auch ein wenig absurd«, sagte Goode mürrisch in derselben Gaststube wie am Vortag. »Aber wenn Monk heute nachmittag nicht mit irgendwelchen Fakten auftaucht, nützt uns das alles nichts. Ich meine, einer von uns sollte nach Chilverley fahren und ihn holen!«
»Er wird kommen, wenn er irgend etwas in der Hand hat!« sagte Rathbone.
Als das Gericht wieder zusammentrat, war der Raum bis auf den letzten Platz gefüllt. Niemand konnte erklären, warum das so war. Vielleicht lag es daran, daß die Angelegenheit nicht ganz so verlaufen war, wie man es erwartet hatte, vielleicht stand die Hoffnung auf Enthüllungen dahinter, möglicherweise war es auch Hesters Vorstellung zu verdanken und dem Sinn für das Lächerliche. Mit einemmal war die ganze Sache interessant geworden.
Der Leichenbeschauer hatte gut gespeist. Er war in einer besseren Kampflaune als zuvor und begegnete Hester bei der Wiederaufnahme ihrer Aussage mit einem strengen Blick und einer Stimme, die sich sowohl bereit als auch fähig zeigte, sie niederzubrüllen.
»Würden Sie mir bitte sagen, ob Caleb Stone bereits tot war, als Sie in die Zelle traten, Miss Latterly. ›ja‹ oder ›nein‹ wird genügen.«
»Ja«, sagte sie mit einem überaus liebenswürdigen Lächeln.
»Er war tot?«
»Ja.«
»Wieso wissen Sie das?«
Mit einer gewissen Ausführlichkeit erzählte sie es ihm und erläuterte alle Methoden, anhand derer man erkennen kann, daß ein Mensch tot war.
»Ich bin Arzt und Jurist, Ma'am!« brüllte er über ihr. »Ich bin mir des Unterschieds zwischen Leben und Tod zur Gänze bewußt.«
»Wie bitte?« fragte sie freundlich. Er wiederholte, was er gesagt hatte.
»Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich meine, es tut mir leid, Ihnen berichtet zu haben, was Sie bereits wissen, Sir. Natürlich nahm ich an, daß Sie Jurist sind, ich war mir aber nicht darüber im klaren, daß Sie auch Arzt sind. Wenn ich Sie beleidigt haben sollte, tut mir das sehr leid.«
»Nicht im geringsten«, sagte er herablassend. »Vielen Dank. Ich habe keine weiteren Fragen an Sie.« Er sah Rathbone und Goode bedeutungsvoll an. »Ihre Aussage war überaus vollständig«, fügte er hinzu.
Nichtsdestotrotz erhob Goode sich von seinem Platz und bat sie, die Dinge zu klären, die mißverständlich sein könnten. Er war fast am Ende mit seinem Latein, als ein älterer Mann in kirchlicher Gewandung sich mit einiger Mühe durch den Raum bewegte und Rathbone einen Brief überreichte.
Rathbone riß ihn auf, las ihn und stieß einen hörbaren Seufzer der Erleichterung aus.
Goode drehte sich zu ihm um und sah in seinen Augen, daß die Rettung gekommen war. Er erlaubte Hester, sich zu guter Letzt doch noch dem Ende zu nähern, und mit einem Seufzer der Dankbarkeit seitens des Leichenbeschauers wurde sie aus dem Zeugenstand entlassen, was einen Teil der Zuschauer, die weder Caleb noch Angus gekannt hatten, zutiefst enttäuschte.
Der Arzt, der die Leiche untersucht hatte, wurde aufgerufen. Der Leichenbeschauer brauchte weniger als eine Viertelstunde, um dessen Aussage aufzunehmen und ihn wieder zu entlassen. Weder Goode noch Rathbone fiel irgend etwas ein, was sie ihn noch hätten fragen können. Er hatte gesagt, die Todesursache sei eine tiefe Stichwunde, die von einem Taschenmesser stammte, gewesen, die die Halsschlagader durchtrennt habe, worauf der Verblichene verblutet sei. Diese Tatsache stand durchaus im Einklang mit dem Umstand, daß er die Waffe in einer Hand gehalten hatte und sie sich bei einem Sturz oder während des Handgemenges selbst in die Kehle gestoßen habe. Es gab nichts hinzuzufügen.
Rathbone erhob sich. Wo um alles in der Welt blieb Monk? Wenn er nicht in den nächsten paar Minuten erschien, würden sie durch einen Verfahrensfehler die Sache verspielen. Er konnte sie nicht länger hinauszögern. Die Geduld des Leichenbeschauers war schon auf eine harte Probe gestellt worden.
»Bei allem Respekt, Sir, dies alles ist ja durchaus sachdienlich
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