Sein mit Leib und Seele - Band 04
dunkle und menschenleere Bar, die Gäste, die „überwiegend in den späten Abendstunden“ kommen, der lüsterne Chef ... Charles hatte recht, ich bin wirklich naiv. So naiv, dass ich mich völlig ahnungslos in einer Rotlichtkneipe beworben habe. Ich würde mich gerne einfach in Luft auflösen, aber mir wird stattdessen die Komik der Situation bewusst. Ich setze mich auf den Bürgersteig und fange an zu lachen, meine Freunde schließen sich mir bald an.
4. Normal
Niedlich. Wirklich sehr niedlich. 25 Jahre alt, würde ich sagen. Groß. Schlank. Vielleicht sogar ein wenig zu dünn, was ihm einen leicht schlaksigen und daher charmanten Touch verleiht. Er ist ganz vertieft in seine Lektüre,
Der Graf von Monte Christo
; während der halben Stunde, die ich nun schon da bin, hat er kein einziges Mal von seinem Buch aufgesehen. Ich hätte gerne seine Augen gesehen. Ich hoffe nur, dass er nicht für den gleichen Job wie ich gekommen ist. Ich würde es hassen, ihn deshalb hassen zu müssen.
„Guillaume Colin.“
Das ist er. Er steht auf und steckt das Buch in seine Tasche, bevor er mit einem etwas staubigen Mann verschwindet. Er wirft mir noch nicht mal einen Blick zu. Sehr sympathisch. Ich hätte mir auch ein Buch nehmen sollen. Ich blättere in einer Zeitschrift, die ich auf dem kleinen Tisch gefunden habe. Das
Cahiers Octave Mirbeau
, ein Literaturmagazin ... Da fehlen eindeutig ein paar Fotos. Aber hätte mich auch gewundert, wenn in einer Universitätsbibliothek eine Klatsch-Zeitschrift wie die
Voici
rumliegen würde. Wie lange wird das Gespräch wohl dauern? Nach welchen Kriterien wählen die einen aus? Mathieu meinte, es wäre ein Klacks. Die Person, die vorher den Job hatte, eine von seinen Freundinnen, geht mit Erasmus ins Ausland und jetzt brauchen sie wohl ganz schnell jemand Neues und haben noch nicht mal eine Annonce geschaltet ... Aber scheinbar bin ich nicht die einzige Bewerberin. Wenn ich mich entscheiden müsste zwischen einem französischen Studenten, der nur so aus Spaß dicke Wälzer liest, und einer Amerikanerin, die nur so zum Schein in einem Literaturmagazin rumblättert, wäre meine Wahl klar! Sieh mal einer an, wie lustig. Dieser Autor, Mirbeau, hat ein Buch über seinen Hund geschrieben, vielleicht fang ich ja doch noch mit dem Lesen an ...
„Emma Maugham?“
Ich bin dran. Verdammt, ich hab den niedlichen Jungen nicht rausgehen sehen. Aber ich bin ja wegen des Jobs hier, das sollte ich nicht vergessen. Jetzt bin ich dran, im Büro des staubigen Mannes zu verschwinden. Lächle, sei optimistisch und zielgerichtet. Oder auch nicht. Er scheint irgendwie kaum interessiert, hab ich das Gefühl. Alles was er macht, ist ein Formular mit den Informationen auszufüllen, die ich ihm gebe. Es fällt mir etwas schwer, motiviert zu wirken, während ich ihm nur meine Adresse und Verfügbarkeit mitteile.
„Sehr gut. Wir rufen Sie dann am Freitag an, um ein Treffen zu vereinbaren. Danke.“
Das war's? Wir rufen Sie an? Und was soll das jetzt heißen? Dass sie mich nehmen? Dass ich noch ein Bewerbungsgespräch machen muss? Da habe ich überhaupt keine Lust drauf. Ich hätte vielleicht meine Karriere im
Eden
nicht so schnell aufgeben sollen ...
„Gehst du mit mir einen Kaffee trinken?“
Er steht mit dem Buch in der Hand vor der Bibliothek. Der niedliche Typ. Guillaume. Er redet mit mir. Ich kann es gar nicht fassen.
„Möchtest du einen Kaffee trinken gehen?“
„Ja.“
Ich folge ihm willenlos in die Cafeteria. Was will er von mir?
„Ich heiße übrigens Guillaume. Und du?“
„Emma. Was willst du von mir?“
„Ich ... na ja, nichts ... nur dich kennenlernen.“
Ich glaube, da war ich etwas zu aggressiv. Der Junge möchte mich kennenlernen. Das ist alles. Dieser unglaublich niedliche Typ möchte Zeit mit mir verbringen. Deshalb hat er vor der Bibliothek auf mich gewartet. So einfach ist das. Das ist großartig. Wir reden. Guillaume schreibt seine Doktorarbeit in Literaturwissenschaft über einen Autor, von dem ich so tue, als würde ich ihn kennen. Seine Augen, die ich im Moment bewundern kann, haben ein bläuliches Grün, welches mich irgendwie an das Aquarienhaus in meiner Stadt erinnert. Ich weiß, dass das überhaupt nicht sexy klingt, aber mich muntert es seltsamerweise auf. Er sieht mir direkt in die Augen und lächelt. Ich fühle mich vollkommen wohl. Er erzählt mir von der Uni, von seinem Leben, seinen Eltern ... von seinem Job in der Bibliothek. Seiner Meinung nach gibt es dort
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