Seine Heiligkeit: Die geheimen Briefe aus dem Schreibtisch von Papst Bendedikt XVI. (German Edition)
vertraulicher
Angelegenheiten gegen die gebotene Diskretion verstoßen hätte. Allerdings sind
Fakten, die zwischenstaatliche Beziehungen, Korruptionsvorwürfe, mangelnde
Transparenz und Interessen in einer Religionsgemeinschaft betreffen, die über
eine Milliarde Gläubige zählt, von allgemeinem öffentlichem Belang.
Interessanter empfinde ich allerdings die Reaktionen außerhalb des
Vatikans und Italiens. Einige Kardinäle, Episkopate und Bischöfe sowie sehr
viele katholische Gläubige haben den Sinn meiner Arbeit vollauf verstanden: Es
geht nicht um Verurteilungen und vernichtende Kritik, sondern darum,
Verhältnisse aufzuzeigen, die ein unerträgliches Maß an Heimlichkeit, Kumpanei
und Undurchsichtigkeit widerspiegeln. André Vingt-Trois, der diskrete
Erzbischof von Paris und seit geraumer Zeit Vorsitzender der Französischen
Bischofskonferenz, meldete schwerwiegende Zweifel an, dass die inneren Abläufe
und Regularien der römischen Kurie noch zeitgemäß seien. Er hält die
Pensionierung des amtierenden Kardinalstaatssekretärs des Vatikans, Tarcisio
Bertone, aus Altersgründen für absehbar: »Tatsächlich ist die Organisation der
Kurie viele Jahrhunderte alt«, so seine Worte. »Und sie ist gewiss nicht
umfassend an die gegenwärtige Funktion der Kirche angepasst. Als Paul VI. nach dem [Zweiten Vatikanischen] Konzil
neue Projekte auf den Weg bringen wollte, musste er ad hoc Organe schaffen. So
hat auch Benedikt XVI. den Päpstlichen
Rat zur Förderung der Neuevangelisierung gegründet. All das ermöglicht zwar ein
Weitermachen, reformiert aber nicht das Gesamtsystem.« Das Scheitern erscheint
unabwendbar: »Heute funktionieren alle Dikasterien für sich. Die Kommunikation
zwischen ihnen findet bisweilen schleppend oder überhaupt nicht statt, falls
sie nicht über Gespräche zwischen einzelnen Kardinälen verläuft.« Was fehlt?
»Eine Verfeinerung und Koordinierung der Abläufe ist gewiss notwendig. Aber in
jedem Pontifikat machen sich wiederkehrende Stimmen dafür stark, dass der neue
Papst die Kurie endlich reformiert und dafür sorgt, dass sie funktioniert. Man
sieht, dass dies nicht so einfach ist […]«
In Frankreich wiesen katholische Zeitungen wie La
Croix darauf hin, dass in die Missstände, die in diesem Buch
angeprangert werden, nur italienische Kardinäle involviert seien, nach dem
Motto: »Na ja, die Italiener …« Dabei hoben sie zugleich hervor, dass im
Konsistorium ein Ungleichgewicht zugunsten der Zahl italienischer Kardinäle
herrsche. Stand das Vorhaben Benedikts XVI.,
dieses zu verkleinern, Bertones Bestreben entgegen, seinen Einfluss im nächsten
Konklave zu mehren? Möglich ist dies schon.
Der Kardinal von Paris ist sicher keine vereinzelte Stimme. Auch aus
dem deutschen Episkopat zeigen inoffizielle Klagen, dass Roms Zentralmacht
Bauchschmerzen bereitet. Sogar die Nuntiaturen beklagen Roms direktes
Eingreifen, wie das fast kurios zu nennende Schreiben des Nuntius in Deutschland
Erzbischof Jean-Claude Périsset belegt. Es wird in der deutschsprachigen
Ausgabe (S. 292 und
334)
erstmals veröffentlicht. Dies erinnert einmal mehr an den Leitgedanken meines
Buchs: Die heiligen Hallen Roms und die Kirche sind zwei völlig verschiedene
Welten, die vielleicht schon so lange auseinanderdriften, dass sie nicht mehr
zusammenzubringen sind.
Zu diesem Buch
Der geheime Besuch
Benedikt XVI. verlässt
den Apostolischen Palast in einem verdunkelten Wagen, ohne Insignien, ohne
Begleitschutz und ohne den Sicherheitsdienst des Vatikans zu informieren. Es
ist ein Nachmittag in den ersten Januartagen 2012. Etwas ist anders als
sonst. Der Papst bemerkt es nicht, aber er wird verfolgt. Die ganze Strecke
über, vom Petersplatz bis zur Via Aurelia Antica, in unmittelbarer Nähe der
Villa Doria Pamphilj, lässt ein Mann, vielleicht 100 Meter entfernt, den
Wagen nicht aus den Augen – ein Angestellter des Vatikans, einer der engsten
Mitarbeiter einflussreicher Kardinäle.
Beide Männer stehen vor Entscheidungen, die die Zukunft der Kirche
betreffen, so sehr sie sich auch in ihrem Amt, Charakter und Bildungsstand
voneinander unterscheiden. Joseph Ratzinger ist betrübt über die Spannungen
innerhalb der römischen Kurie. Das Kardinalskollegium wirkt seit den letzten
Konsistorien zunehmend gespalten. Und der Papst ist sich völlig darüber im
Klaren, dass es kein Zurück mehr gäbe, wenn er das labile Bündnis mit
Kardinalstaatssekretär Tarcisio Bertone zur Disposition stellte, und sei es
auch
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