Seine Zeit zu sterben (German Edition)
die Gedanken ab, schob sie hinter die Absperrungen und schrie einen Betrunkenen an, der auf die Motorhaube kotzen wollte.
Es herrschte der alljährliche Ausnahmezustand, überall waren Holzhütten aufgebaut, Glühweinstände, improvisierte Fanshops, Flaggenmeere, Schneekugeln, Hansi-Hinterseer-Spannbetttücher, Toni-Sailer-Masken mit Strohhalm, Streifreizwäsche mit Zielhang, Armenpelze, Reichenpelze, Würstel, Eitrige, Geplatzte, Bockwürste, Jagertee, Schnaps, Feuerkessel, Leuchtraketen, Tröten, ein unerträglicher Lärm, alle Lautsprecher im Jodelstreit, aber wie gleichgeschaltet in ihrem dröhnenden Trillertinnitus. Jetzt zog an ihnen eine Schlange Schweizer Fans mit Riesenkuhglocken vorbei, wie Buddhisten beugten sie die Oberkörper und wackelten mit ihren schweren Glocken ihr Oommh, glichen selbst den Rindviechern, und trotteten tranceartig über die Trottoirs, schufen sich Rettungsgassen und teilten das Meer der Schaulustigen und Sturzsüchtigen.
Bonnie glaubte, ihr Kopf wäre der Schlägel in so einer Glocke und irgendein wild gewordener Schweizer würde mit ihr durch die Stadt schwanken. »Nie wieder ein Schweizer«, hörte sie sich zu Schatterer rufen, der sie in dem Lärm nicht verstand. »Kein Schweizer!«, das Schreien half. Schatterer würde ihre Aggression verstehen, ein vierter Schweizer Sieg auf der Streif in Serie wäre wie ein Weltuntergang. Die Anwohner waren eh noch alle traumatisiert von diesem alten Didier, weit über dreißig. Voulez-vous coucher avec moi , hatten die Eidgenossen gesungen und ihren dritten Sieg in Folge genossen, als wären sie nun vollends zurückgekommen und hätten sich Kitzbühel erneut unter den Nagel gerissen und als ein weiteres schwarzes Loch in ihren Käse eingemeindet. »Wenn man vom Teufel spricht«, brüllte Schatterer und drehte das Radio lauter, obwohl die Kuhglockenclan-Schweizergarde längst weitermarschiert war. »Das war Horror«, hörte Bonnie Didier Cuche von seiner ersten Streif erzählen, Märchenstunde. »Horror. Ich hatte das Gefühl, ich kann’s nicht, ich will’s nicht, ich gehe nicht vorne runter, ich fahre mit der Gondel wieder zurück. Dann habe ich mich gefangen und bin runtergekommen. Ich habe acht Sekunden verloren, aber ich war gesund im Ziel. Das war wie ein Sieg.« »Welcher von uns heute acht Sekunden Rückstand hat, der wird dann 14 Jahre später gewinnen, dann haben wir endlich auch wieder einen ganz oben am Trepperl.«
»In 14 Jahren gibt’s keinen Schnee mehr«, raunzte Bonnie zurück, die immer noch nicht reden wollte und der dieses Stop-and-Go auf den Magen schlug, sie wollte sich am liebsten jedes Mal übergeben, wenn er auf die Bremse trat.
»Aber Schneekanonen, die das ganze Jahr Schnee machen, die aus der Luft Schnee machen, aus Wasser, aus Gras.«
»Aus Geld, Geld macht Schnee, fahr links rein, wir fahren hintenrum, so bin ich ja zu Fuß schneller.« Schatterer gehorchte wortlos, er wusste, Widerrede war tödlich, wer Bonnie widersprach, war ein Dead Man Walking. Spürte sie Widerspruch, bekamen ihre grünen Augen ein irrlichterndes Leuchten. Äußerlich wirkte es so, als entspanne sie sich, lehne sich zurück, lasse den anderen gewähren. Aber gleichzeitig durchblitzte es die Pupillen als Vorboten einer unaufhaltsamen Eruption. Dabei explodierte sie nicht. Nicht, dass sie cholerisch oder hysterisch wurde, mit Gegenständen um sich warf, schrie, aufstampfte, um sich schlug, spuckte, Gift sprühte. Nein, ihre Explosion war lautlos, unsichtbar. Es war kaum zu erklären, sie lud ihre ganze Umgebung mit Energie auf, einem Kraftfeld, das einen wie in der Achterbahn in den Sitz presste, der nach unten stürzte. Man spürte ihre Wut im Magen, der sich zusammenzog, in der Luft, die am Gesicht vorbeijagte, an diesem Ton, dessen Frequenz nicht Gläser zerspringen ließ, aber jeden Willen, länger widersprechen zu wollen oder an seiner Position festzuhalten. Dabei hatte sie noch nichts gesagt. Aber wer ein »Gibst du mir mal Feuer« in diesem Ton aushalten konnte, der war hart im Nehmen und bereit, durch die Hölle zu gehen, die langsam ihre Pforte mit Bonnies Lidern öffnete, die sie die letzte halbe Minute über geschlossen hatte. Wer diesen Blick überlebte, musste in Drachenblut gebadet haben.
Er war nicht nur stechend, als würde sie ihre Pupillen als Morgensterne aus den Augen schleudern. Nein, in dem nächsten Bruchteil eines Blickes war sie derart verletzlich und zerbrechlich, als müsse man ein Meer von Seelensplittern und
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