Der Flammenengel
Am Nachmittag war es plötzlich kalt geworden. Der Nordwind blies über das Häusermeer hinweg, brachte Schneeregenschleier mit und rüttelte an dem blattlosen Geäst der Friedhofsbäume. Er jagte auch hungrig gegen die aufgespannten Regenschirme der letzten Trauergäste, die noch in den Schutz der marmornen Leichenhalle flüchteten, wo die Trauerfeier für David Sternheim schon fast beendet war. Sternheim war drei Tage zuvor gestorben. In der internationalen Szene galt er als bekannter, wenn auch sehr eigenwilliger Maler. Seine Bilder zeigten das, was die Menschen oftmals nicht sehen wollten. Motive vom Tod, vom Grauen, mit viel Feuer im Hintergrund und gefährlichen Fratzen, die über allem standen.
Träume malen, so hatte seine Devise geheißen. Feuerträume auf die Leinwand bringen, hatte es ein cleverer Werbemann genannt. Jetzt hatte es den guten Sternheim selbst erwischt. Wie er gestorben war, wusste niemand so recht, und schon einen Tag nach seinem Ableben waren die ersten Gerüchte aufgetaucht.
Ein Rabbi sprach von der hohen Menschlichkeit des Toten und seiner tiefen Religiosität. Beides war gelogen. Sternheim war nicht menschlich gewesen, eher kalt und abweisend, und als sehr religiös hatte man ihn auch nicht bezeichnen können, aber wenn ein Mensch nicht mehr lebt, versucht man eben, ihn im besten Licht darzustellen. Die Trauergäste standen dicht gedrängt. Die meisten waren erschienen, um gesehen zu werden, schließlich hatte sich auch die Presse eingefunden, und man wollte sich am anderen Tag in den verschiedensten Gazetten wiederfinden. In der Halle roch es muffig. Die Feuchtigkeit quoll aus den Mänteln der Anwesenden, hinzu kam ein unnatürlicher Geruch, der von irgendwelchen Pflanzen abgegeben wurde. Alles in allem war es eine bedrückende Atmosphäre, in die auch der schwarze Sarg hineinpasste, der ein wenig erhöht auf einem Podest stand und von sechs brennenden Kerzen umrahmt wurde.
Auch der Sarg war etwas Besonderes. David Sternheim hatte ihn schon zu seinen Lebzeiten gekauft und ihn nach seinen Vorstellungen bemalt. Lange gelbrote Feuerzungen leckten über den Sargdeckel. Sie wirkten wie Schlangen, waren am Fußende breiter und verengten sich zum Kopfende hin. Man konnte über Geschmack streiten. Sternheim war wohl der einzige, der in einem bemalten Sarg bestattet werden sollte, aber so etwas entsprach seinem Leben.
Und der Rabbi redete weiter. Er hatte seine Stimme erhoben. So wie jeder Redner, der kurz vor dem Ende seines Vortrags steht. Der lange Bart des jüdischen Geistlichen zitterte mit der Stimme um die Wette. Worte wie Paradies und neues Leben schallten über die Köpfe der Trauergäste, bis zu dem Zeitpunkt, als sich der alte Rabbi reckte und die Arme hochhob. Er wollte den Toten noch einmal segnen. Und da passierte es. Der Sarg explodierte!
Niemand wusste, wie es überhaupt geschah. Die Menschen wurden zu sehr überrascht. Sie erlebten es in einem verminderten Tempo mit, obwohl die Zeit nicht langsamer lief, aber es war schwer, all das Grauen zu fassen, das sich auf einmal ausbreitete.
Zuerst erfasste es den Deckel! Die geballte Kraft drang aus dem Innern der Totenkiste. Sie musste sich einfach freie Bahn verschaffen, und sie schleuderte den Deckel in die Höhe, wobei er gegen die Decke prallte und dort an den Rändern zersplitterte.
Nicht ein Schrei gellte durch die Halle. Die Menschen verfolgten den in die Höhe geschleuderten Sargdeckel mit ihren Blicken, und nur der Rabbi schaute, aus welchen Gründen auch immer, in die offene Totenkiste.
Er sah das Feuer! Es war urplötzlich da, lief und zuckte rasch wie schnell fließendes Wasser über die Gestalt des Malers, ballte sich zusammen und puffte in die Höhe.
Der Rabbi konnte noch erstaunt den Mund aufreißen, zu mehr kam er nicht, denn die Flammen breiteten sich gedankenschnell aus. Sie sprangen aus dem Sarg, jagten ihm entgegen und erfassten im Nu die Gestalt des Mannes. Der Rabbi schrie nicht einmal. Dafür die Besucher. Erst jetzt erkannten sie das Ausmaß des Grauens, und sie sahen den Rabbi in Flammen stehen.
Die nächste Explosion. Noch stärker als die erste. Und dazu weittragender. Die Flammen wurden zu einem kochenden, vernichtenden Meer. Sie jagten über die Köpfe der Menschen hinweg, als hätte jemand eine Napalmbombe gezündet. So radikal breitete sich das Feuer aus und wollte alles vernichten, was sich ihm in den Weg stellte.
Im Nu entstand Panik. Die Menschen spürten den mörderischen Atem, der heiß
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