SEK – ein Insiderbericht
geschieht, heißt es hernach, dass sich wieder einmal eine Familientragödie ereignet habe. Ein solcher Täter ist hochemotional und unberechenbar. Deshalb handelt es sich bei Bedrohungslagen mit um die diffizilsten und schwierigsten Einsatzanlässe, zu denen SEK-Beamte gerufen werden können. Tatsächlich kommen hierbei mehr Personen zu Schaden oder zu Tode als bei allen anderen Situationen, zu denen die Polizei gerufen wird. Und gerade weil die Einsatzkräfte nicht wissen können, wie sich eine solche Situation im nächsten Moment entwickelt, ist eine Führungskonstellation mit einem Führungsbeamten, der über die wesentlichen taktischen Optionen erst beraten werden muss und eine schnelle Reaktion der Spezialkräfte damit wesentlich erschwert, völlig kontraproduktiv.
Ich wage die Behauptung, dass wir uns derzeit am Scheideweg einer Entwicklung befinden, die als schleichender Prozess bereits mit Gründung von Spezialeinheiten in Deutschland erfolgte. Wie zu Anfang dieses Buches kurz rekapituliert, entstanden die bundesdeutschen Spezialeinheiten aus der Erkenntnis heraus, dass der Staat mit den zur Verfügung stehenden Mitteln die damaligen Bedrohungen (zu jener Zeit palästinensische Terroristen und die RAF) nicht effizient bekämpfen konnte. Ein Haupthindernis dabei war damals (wie heute) der bürokratische »Apparat Polizei«, der in seiner Schwerfälligkeit in keiner Weise in der Lage war, schnell auf veränderte Lageentwicklungen und Täterprofile zu reagieren, und der, im Unterschied zu heute, damals auch nicht über speziell ausgebildete Einheiten zur Bekämpfung dieser Täterprofile verfügte. Die Idee bei der Gründung der neuen Spezialeinheiten GSG 9 und der SEKs auf Länderebene war, Einheiten zu schaffen, die losgelöst von der üblichen Organisations- und Ausbildungsstruktur der Polizei sowohl personell als auch materiell in der Lage sein sollten, unmittelbar und schnell auf Veränderungen des Täterprofils zu reagieren.
Zu konstatieren ist allerdings, dass der »Apparat Polizei« seit Gründung der Spezialeinheiten nichts unversucht gelassen hat, diese wieder in die normalen Abläufe zu integrieren. Nichts ist einer bürokratischen Organisation wie der Polizei und ihrer höheren Führung mehr zuwider als eine Organisationseinheit, die zwar nominell dazugehört, auf die man aber nur geringen Einfluss hat.
Somit begann die »Wiedereingliederung« der Spezialeinheiten in den »Apparat Polizei« bereits am Tage ihrer Gründung in jenem schleichenden Prozess, der bis heute anhält. Ein fatales Ergebnis dieses Prozesses konnte bereits bei der Geiselnahme von Gladbeck 1988 beobachtet werden. Im Zuge dieser Geiselnahme, bei der zwei bewaffnete Täter nach einem missglückten Banküberfall in Gladbeck über zwei Tage hinweg mit ihren Geiseln kreuz und quer durch Deutschland fuhren, Presseinterviews gaben, zwei ihrer Geiseln töteten und schließlich bei einem Zugriff auf der Autobahn A 3 nach einem heftigen Feuergefecht mit dem eingesetzten SEK überwältigt wurden, zeigten sich erstmals deutliche Züge dieser führungstechnischen Fehlentwicklung.
Im Laufe dieser verhängnisvollen Tage waren die die Täter begleitenden Spezialeinheiten mehrfach in der Position, einen Zugriff mit relativ geringem Risiko, insbesondere für die Geiseln, durchführen zu können. Gescheitert ist dies regelmäßig daran, dass die Beamten der Spezialeinheiten nicht selbst über die Durchführung des Zugriffs entscheiden konnten, sondern erst langwierig mit den jeweiligen nicht vor Ort befindlichen Führungskräften kommunizieren mussten. Mit Führungskräften, die zwar über den Gesamteinsatz der Polizei entschieden, aber eben keine ausgebildeten Spezialbeamten waren und das Für und Wider einer geplanten Zugriffsmaßnahme aufgrund fehlenden Fachwissens gar nicht oder nur ungenau beurteilen konnten. Und schon war die günstige Zugriffssituation, die zur aufwendigen Beratung anstand, wieder vorbei!
Und welche Folgerungen sind aus diesem Desaster gezogen worden?
Aus meiner Sicht hätte es nur eine einzige logische Folgerung geben können: nämlich die Bündelung der Entscheidungskompetenz über Art und Zeitpunkt der Zugriffsmaßnahmen in der Hand der dafür ausgebildeten Spezialeinheiten. Aber genau diese Folgerung wurde nicht gezogen. Stattdessen wurde der bürokratische Überbau – quasi die Verwaltung der jeweiligen Lage – weiter ausgebaut. Anstatt einen ausgebildeten SEK-Führer mit der eigenverantwortlichen Planung,
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