Sekunde der Wahrheit
Pferde auskennt, ist der Ausgang eines Rennens nie vorauszusehen. Was an Zeit, Zuchtauswahl, Disziplin und Hingabe nötig sind, um einen Derbysieger hervorzubringen, kann man sich kaum vorstellen. Die Phantasie aber beflügeln erst recht die Legenden von Schindmähren, die über ihre edlen und gehätschelten Rivalen siegten, dann als syndikatisierte Zuchthengste für Millionen den Besitzer wechselten und auf eine erfolgreiche Nachkommenschaft stolz sein können. Ein Sprung eines Zuchthengstes bringt dem Besitzer bereits 35.000 Dollar, ein erfolgreicher Deckakt das doppelte. Die Sache mit Aschenputtel …
Das nämlich macht das Derby – das jedes Land nur einmal jährlich veranstalten darf; von den Derbys der amerikanischen Bundesstaaten zählt nur das Kentucky Derby international – so bedeutend, seit 1780 in Epsom bei London zum ersten Mal die besten dreijährigen Hengste und Stuten um die Wette liefen. Mit drei Jahren zeigt ein Pferd, was es kann; dann erfährt der Besitzer, ob er mit seiner Zucht Erfolg hat. Beim Derby ist ein Vergleich der Leistungen Hauptsache; alle Pferde laufen unter dem gleichen Gewicht von 57 kg, so daß der Sieger einen besonders hohen Zuchtwert erlangt. Wen wundert, daß die Wogen hoch hergehen, wo großer Gewinn und Verlust so nah beieinander liegen?
Auf der Tribüne, im Clubhaus, im Bereich der Stallungen – und auf den vielen Partys und Banketts sind natürlich die Trainer, die kleinen Jockeys sowie die aus unterschiedlichsten Kreisen stammenden und in den übrigen Wochen des Jahres keineswegs so gesellschaftsfähigen Besitzer tonangebend, aber alles dreht sich um die muskulösen Hoheiten auf zierlichen Beinen, die Pferde. Was sich da hinter den Kulissen abspielt, ist mindestens so interessant wie das Schauspiel, das der Öffentlichkeit geboten wird. Was verbirgt sich hinter den eleganten Hotelfassaden? Welche Intrigen werden in den Stallgassen ausgeheckt? Wir werden es wahrscheinlich nie erfahren.
Doch betrachten wir einmal das Feld der Teilnehmer am klassischen Zuchtrennen nächsten Sonnabend. Es sieht viel versprechend aus. Von den dreihundertneunzehn Vollblütern, die im Februar gemeldet wurden – die Hoffnung, teilnehmen zu können, kostet nur hundertfünfzig Dollar –, sind nur zwölf Dreijährige übrig geblieben. Zwei sind Favoriten.
Vincent Van aus dem Gestüt Thistle Hill Farms, hier aus der Blaugras-Gegend, hat von acht Rennen im letzten Jahr sechs gewonnen, darunter den Eclipse-Preis und das Wood Memorial, wo er in einem atemraubenden Foto-Finish Ancient Mariner schlug.
Der zweite Favorit ist Starbright, der die berühmten Rennfarben der Blue Ridge Plantation in Virginia trägt. Besitzerin ist die diesjährige Rennprinzessin, Miß Kimberly Cameron, von ebenso untadeliger Abstammung wie ihr Dreijähriger. In diesem seinem dritten Jahr hat er alle drei Rennen gewonnen, bei denen er an den Start gebracht wurde. Man wird auf ihn setzen, aber die Quoten werden sich in Grenzen halten.
An nächster Stelle wäre der großrahmige Ancient Mariner zu nennen, der das Wood Memorial um Haaresbreite verlor, das Bluegrass dagegen mit zwei Langen gewann. Seine Blutlinien sind königlich, und seine Besitzerin, Mrs. Rachel Stoddard mit ihrem Brookfield-Gestüt in Connecticut, wird als die große Dame des Rennsports verehrt.
Und noch ein Star startet, True Blue, ein weiterer Sprinter aus Kentucky. Die alteingesessene Familie James Oliver ist der Besitzer. True Blue hatte im vergangenen Jahr viel Erfolg, läuft aber dieses Jahr noch seiner Form hinterher. Trotzdem wird man mit ihm rechnen müssen.
Vermutlich ist auch Fireaway ein Anwärter auf den Sieg, jener Hengst aus dem Westen von Texas, der im Februar die San Vincente Stakes mit sieben Längen gewann und beim California Derby als erster durchs Ziel ging – und dann bei der Siegerehrung seinen Jockey biss.
Wir haben dieses Jahr eine internationale Besetzung und müssen daher auch mit weniger bekannten Größen rechnen. Da ist beispielsweise Fuji Mist aus dem Fernen Osten, im Besitz eines japanischen Industriellen und angeblich ein Vulkan auf den Rennbahnen seines Heimatlands und Hongkongs.
Von den einunddreißig Stuten, die bisher im Derby liefen, haben nur zwei es jemals gewonnen, und das war in den Jahren 1915 und 1980. Aber aus dem schönen Frankreich kam dieses Mal Bonne Fête, die den europäischen Pferden in Deauville, Longchamp und Ascot ihren hübschen Schweif zeigte.
Um die statistische
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