Sekunde der Wahrheit
zu vögeln wie mit zweiundzwanzig.«
Was sollte diese Lüge? Leicht? Leichter! Sieben verdammte Jahre. Und mit jedem wuchs die innere Leere. Das konnten auch Flirts und Spielereien nicht überdecken, im Gegenteil. Und alles war schaler, viel unbefriedigender als mit Clay, den sie inzwischen hasste.
Als hätte er ihre Gedanken gelesen, sagte Andrew mit einer leisen, gespannten und ganz fremden Stimme: »Tochter, ich glaube nicht, daß ich jemals einen Menschen so gehasst habe, wie ich Clayton Chalmers hasse.«
Hass. Das war ein starker Ausdruck für Andrew Cameron. Sehr stark.
Sie ging einige Schritte auf ihn zu. »Ich hasse ihn genau so wie du, Andrew.«
Es war wahr und doch auch gelogen. Es war beides gleichzeitig. Wie zum Teufel konnte das sein?
»Vielleicht«, meinte Andrew trocken und mit einem skeptischen Unterton. »Aber vielleicht auf andere Weise.«
Wieder einmal mehr hatte er seinen Scharfsinn bewiesen. Sie verstand. Gern sagte sie es nicht. »Du hasst ihn wegen Lord Randolph«, konstatierte sie vorwurfsvoll.
Sanft entgegnete Andrew: »Lord Randolph war, wie du weißt, kein gewöhnlicher Zuchthengst. Allein sechzig Siege in Zuchtrennen standen auf seinem Gewinnkonto, bevor er starb. Ehe er umgebracht wurde.«
Darüber wollte sie nicht reden und schon gar nicht nachdenken, weder jetzt noch sonst wann. Vorbei ist vorbei. Sieben Jahre war das her. Jetzt kam es nur darauf an, mit Starbright als Sieger im Führring zu stehen und tausend und aber tausend Augen auf sich zu spüren – und besonders die von Clay Chalmers, diesem Mistkerl …
Und was dann? Vielleicht würde sie sich dann ganz und gar sicher fühlen. Warum konnte sie sich eigentlich nie einer Sache oder eines Menschen sicher sein. Sie war zwar inzwischen neunundzwanzig, aber in Wirklichkeit war sie noch immer das kleine Kind, das beim geringsten Anlass in panischer Angst davonrannte.
»Gute Nacht, Tochter – und versuch zu schlafen. Sonst fällt es dir schwer, uns morgen nach Louisville zu fliegen.«
Damit stieg er die geschwungene Treppe hinauf. Seit wann gaben sie sich keinen Gutenachtkuss mehr? Und warum? Wieder kam sie sich wie ein unbeholfenes, staksiges Fohlen vor, das ums Gleichgewicht kämpft. Verdammt, so macht er es immer mit ihr. War ihm nicht klar, wie abgründig sie es hasste, allein gelassen, beiseite geschoben zu werden? Oder war es ihm egal?
Sie merkte, daß sie nahe daran war, zu heulen. Dabei hasste sie Tränen.
Warum gerade jetzt?
Du weißt es doch.
Lass mich in Ruhe.
Weinst du um dich? Um Lord Randolph?
Nein.
Dann aus Liebe. Sieben vergeudete Jahre.
Nicht Liebe. Hass.
Mach dir nichts vor, Kimberley.
Ach, bitte …
Der einzige Mensch, den du hasst, ist Kimberley Cameron. Warum quälst du mich? Dich hasse ich, wer bist du eigentlich?
Das weißt du doch.
Geh weg.
Du schickst immer alle weg. Und dann wunderst du dich, wenn du allein bist.
Sag mir, wer du bist, sag es mir!
Du hasst mich und du weißt genau, wer ich bin.
Ja, sie wußte es. Ihr anderes Ich. Das Haus war leer und kalt. Ihr Mund war trocken, ihr Herz schlug hämmernd und zuckend zugleich. Panik legte sich wie eine Decke auf sie, wie eine atemabschnürende Wolke …
»Ist mit dem Druck etwas nicht in Ordnung«, fragte Kimberley, ehe sie realisierte, daß sie im Flugzeug neben ihrem Vater saß.
Andrew runzelte die Stirn und bot ihr an, die Maschine zu übernehmen.
Sie war einverstanden und lehnte sich zurück. Kalter Schweiß stand auf ihrer Haut und fühlte sich feucht im Nacken an.
Sie hatte nie versucht, jemandem ihr Problem zu erklären, nicht einmal diesem angeberischen jungen Psychiater, den sie heimlich zweimal aufgesucht hatte. Auch so ein Arschloch. Wie sollte sie auch etwas erklären können, was sie selbst nicht begriff? Ihr war, als sei sie ein Doppelwesen, als lauere neben ihr immer ein Schatten, das Gespenst ihrer selbst. Ihr anderes schreckliches Ich.
Im Augenblick allerdings meldete sich die andere Kimberley nicht. Nun kam es ihr so vor, als sei sie nur ein Alptraum der ruhelosen vergangenen Nacht. Die quälende Stimme in ihr war still. Fort mit allen Zweifeln und Schatten. Sie seien für ewig verbannt, verdammt!
»Das Schloß liegt vor Ihrer Hoheit, Prinzessin.«
»Prinzessin, Quatsch«, sagte sie und hörte Andrew auflachen. Mist. Auch das nützte nichts. Nichts drang wirklich zu ihm durch.
Als ihr Vater langsam zum Anflug ansetzte, blickte sie hinaus. Unter ihnen erstreckte sich das Oval der fahlgelben Rennbahn,
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