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Sekunde der Wahrheit

Titel: Sekunde der Wahrheit
Autoren: Hayes Joseph
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verspielen, nur weil sie unbedingt schnell Millionäre werden möchten.
    Am frühen Morgen haben die Frühaufsteher vielleicht die bunten Ballons am Himmel entdeckt, sinnigerweise mit heißer Luft gefüllt. Dabei handelte es sich nicht um eine Halluzination im Zustand der Volltrunkenheit, sondern um den Start des Ballonrennens, das immer während der Derbywoche stattfindet. Heute ist nämlich der letzte Samstag im April und demzufolge in einer Woche der erste Sonnabend im Mai mit dem glanzvollen Höhepunkt der Rennwoche, dem Kentucky Derby, als passender Abschluß eines siebentägigen Spektakels voller Ausgelassenheit und zunehmender Tollheit. Die Betroffenen nennen diesen kollektiven Wahnsinn liebevoll Derbyfieber, das immer intensiv auftritt und manchmal tödlich ausgeht. Es ist Weihnachten, Karneval, Geburtstag und Jahrmarkt in einem – fröhlich begleitet vom Klingeln der Registrierkassen.
    Millionen Dollar werden in dieser geheiligten Woche den Besitzer wechseln, den Schätzungen nach an einem einzigen Tag an den Wettschaltern fünf Millionen. Doch selbst die ein Vermögen verlieren, geben ihre Hoffnung auf eine Glückssträhne am nächsten Tag nicht auf. Ein neuer Tag, ein neues Pferd, ein sicherer Tip. Und so wiederholt sich alljährlich das Drama mit der Unabwendbarkeit einer griechischen Tragödie.
    Einem rundlichen Kurzwarenhändler, der zehn hungrige Mäuler zu füttern hatte, verdanken wir seit 1875, daß sich das siebte Rennen am ersten Sonnabend im Mai zu einem der wichtigsten Sportereignisse mauserte. Heute zieht es Taschendiebe, Schlepper, Bauernfänger und Betrüger aller Schattierungen und Prostituierte an, die wie Heuschreckenschwärme in die am Ohio dahindämmernde Kleinstadt Louisville einfallen und sie zum Sündenbabel machen. Paßt auf eure Zähne auf, Leute, falls sie Goldplomben haben!
    Im Mittelpunkt dieses ganzen Phänomens steht ein Tier. Auf spindeldürren Beinen trägt es ein Gewicht von etwa tausend Pfund, rennt wie der Wind auf Zehenspitzen, die Hufe heißen, und überwindet mit einem Galoppsprung siebeneinhalb Meter. Es vermag eine Geschwindigkeit von sechzig Stundenkilometer und sie über einen oder zwei Kilometer durchzuhalten. Es handelt sich bei diesem Wundertier um ein Vollblut-Rennpferd, ein Bündel geballter Energie von atemraubender Eleganz, das außerdem noch Intelligenz, Loyalität und Charakter besitzt.
    Manche halten es für ein dummes Vieh, welches das Geld für Futter, Transport und Unterbringung nicht wert ist. Traurig, aber wahr: Nur eins von neun Pferden läuft die Kosten für seinen Lebensunterhalt wieder ein, vom Kaufpreis ganz zu schweigen. Worauf ein unbelehrbarer Romantiker einwenden mag, daß allein schon der Anblick des Siegerpferds den Tag gerettet hat. Geschäftstüchtige rümpfen die Nase und verwetten trotzdem ihr letztes Hemd. Ich persönlich habe ein Bein in jedem Lager und leide demzufolge unter akuter Schizophrenie.
    Aber was reizt Hunderttausende normalerweise vernünftiger und angesehener Bürger sowie weitere Millionen am Bildschirm, sich dieses Zweiminutenrennen nicht entgehen zu lassen? Rennen als Sport der Könige? Ist es überhaupt noch ein Sport? Sind nicht die Drahtzieher längst jene skrupellosen Geschäftemacher, die sich mit der gleichen Bedenkenlosigkeit über sportliche Fairness hinwegsetzen wie über Umweltschutz und Gemeinwohl? Schon jetzt deutet einiges darauf hin, daß das organisierte Verbrechen seine Finger im Spiel hat. Bis jetzt wurde zwar noch niemand beim Manipulieren des Kentucky Derbys erwischt – was aber nicht heißen soll, daß das Derby nicht schon durch Bestechung gewonnen worden ist.
    Viele Legenden spinnen sich um das Ereignis, und das scheint weniger an der Pace zu liegen, mit der die schnellsten Galopper laufen, sondern an dem dramatischen Beiwerk: Jockeys, die sich mit Gerten traktieren und am Dress zurückzerren, reiterlose Pferde, die sich wacker halten, Disqualifizierungen wegen unerlaubter Drogen (die später legalisiert wurden) und die berühmten Außenseiter, die das Feld um Längen schlagen. Das ist Futter für die Spekulationen der Pferdenarren, und Spekulationen reizen uns doch alle mit unserer Habgier und Verworfenheit.
    Trotz der wunderbaren elektronischen Rechenkünste des Wett-Totalisators ist dieser Einbruch des modernen Technologieglaubens in das Renngeschehen nur von scheinbarer Bedeutung, denn selbst für einen erfahrenen ›Handicapper‹ wie mich, der sich mit allen Stärken und Schwächen der
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