Selber schuld!: Ein Wegweiser aus seelischen Sackgassen (German Edition)
unruhig. Natürlich habe so etwas auch angenehme Seiten … Die Patientin schweigt lange … Aber sie habe immer einen anderen Mann geliebt! Jetzt sprudelt es aus ihr heraus. Sie sei seit zwei Jahren in Martin verliebt gewesen, habe sich aber nicht getraut, sich ihm zu nähern. Dann sei Andreas gekommen, der sei auch ganz nett gewesen, aber halt nur ein schwacher Abklatsch, ein erreichbarer Ersatz. Aber den unerreichbaren Martin habe sie nie vergessen können, wo sie ihn noch dazu regelmäßig auf der Uni gesehen habe. Und so habe sie während des Geschlechtsverkehrs mit Andreas immer den geliebten Martin phantasiert – mit immensen Schuldgefühlen gegenüber Andreas danach.
ANALYSE: Schuldgefühle entstehen, wenn die eigenen Handlungen nicht mit den eigenen Prinzipien kongruent sind.
Vom Sinn des Schmerzes
Gesund und krank: Die beiden Spielarten von Schuldgefühlen könnten in medizinischer Terminologie als »physiologisch« und »pathologisch« beschrieben werden. Der Ausdruck »physiologisch« wird in der Medizin oft im Sinne von normal, beim gesunden Menschen auftretend, nicht krankhaft verwendet. Physiologisch ist also etwa der gesunde Verdauungsvorgang, das intakte Gangbild, die funktionierende Sehfunktion vom Lichteinfall in die Pupille bis zur Sehrinde im Gehirn. »Pathologisch« hingegen heißt »unzweckmäßig, dysfunktional, unphysiologisch, krankhaft«. Das sind etwa eine Verdauung, die nicht funktioniert, und ein Bein, das nicht belastbar ist.
Der Schmerz ist normalerweise ein physiologischer Mechanismus und hat den Sinn, auf etwas aufmerksam zu machen, was dem Körper schadet. Dieses Warnsignal ermöglicht es, die Aufmerksamkeit auf den Schadensfall zu lenken und bewusste Heilungsprozesse einzuleiten, Schadensquellen – zum Beispiel Stechmücken – auszuschalten und dem verletzten Körperteil Schonung zukommen zu lassen. Das gesunde Schuldgefühl ist analog dazu ein Schmerzempfinden der Seele, das Schaden anzeigt: eigenen und/oder fremden Schaden. Denn Schuld ist tatsächlich ein Schadensfall im menschlichen Leben – und zwar in allen drei Dimensionen, die Robert Cloninger in seiner Charakterlehre entwickelt hat: Schaden im Betroffenen selbst – Schaden in der Beziehung zu anderen – Schaden im transzendenten Sinn (siehe Kapitel 5).
Der Schmerz ermöglicht ein Hinschauen auf die betroffene Stelle und damit die Einleitung eines Heilungsprozesses. Die Entschuldigung gegenüber dem anderen ermöglicht die Heilung der Beziehungswunde, die durch das Unrecht entstanden ist. Je klarer dabei die Verletzung als solche formuliert wird, umso eher kann die Entschuldigung gelingen. Wie viele wirkliche Opfer sehnen sich nur nach diesem Wort! Die ehrliche Bitte um Verzeihung ermöglicht aber auch die Heilung des innerpsychischen Schadens, der durch eine Bosheit in einem selbst entsteht.
Selten, aber manchmal doch geht im Bereich des körperlichen Schmerzes die Alarmanlage los, ohne dass jemand eingebrochen hat: das wäre ein pathologischer Schmerz. Sie kennen das vielleicht: Sie liegen auf der Wiese, irgendetwas krabbelt auf Ihrem Bein. Eine Ameise! Sie schütteln sie ab. (Aber lassen Sie sie bitte leben, das sind nützliche Tierchen!) Nach drei Minuten kribbelt es wieder. Sie schauen hin, aber nichts krabbelt! Gar nichts! Eine vollkommen insektenfreie Körperoberfläche, auf der es unverschämt kribbelt. Im Beobachten der sensiblen Stelle verschwindet dann langsam das Kribbeln. So als ob unser Nervensystem missmutig eingestehen würde: »Ja, gut, jeder kann sich mal irren …«.
Das Zuviel an Schmerz – der pathologische Schmerz – ist sinnlos, sozusagen ein »Fehlalarm« des Körpers: unpraktisch, lästig. Phantomschmerzen nach einer Amputation etwa sind höllische Schmerzen in den bereits abgenommenen Gliedmaßen, die von blind endenden Nervenzellen und nunmehr funktionslosen Hirnarealen herrühren. Es gibt Hypochonder, die fürchterlich unter Krankheiten leiden, die sie gar nicht haben. Das entspricht den krankhaften Schuldgefühlen: Gefühlen des Schuldigseins ohne entsprechende Schuld. Das Bild aus der Medizin veranschaulicht, dass pathologische Schuldgefühle wie eine Krankheit unpraktisch sind, die Lebensqualität einschränken und das Zusammenleben so weit verkomplizieren, dass man sie – psychotherapeutisch und meist auch psychopharmakologisch – behandeln sollte.
Blenden wir noch einmal zurück zu unserer Ameise, die gar nicht da war, die wir phantasiert haben. Schlimm, nicht
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