Grusel Box: Drei Mystery-Thriller (German Edition)
Die rote Kirche
Kapitel 1
Die Welt wird nicht so enden, wie man sich das vorstellt , dachte Ronnie Day.
Da gab es die altbewährten Favoriten wie Atominferno, Asteroiden-Kollision, Killerviren und Prediger Staymores zeitlosen Klassiker, die Wiederkunft von Jesus Christus. Aber in Wirklichkeit war das Ende keine so große, durchorganisierte Angelegenheit. Das Ende war etwas sehr Persönliches, für jeden anders, ein Tritt in den Hintern und dann das Handschocker-Händeschütteln mit dem Sensenmann höchstpersönlich.
Aber das war das Große Ende. Vorher musste man sich durch Tausende von Wendepunkten arbeiten und jedes Mal ein bisschen sterben. Das war eine der Lektionen des Lebens, die er als Nebenprodukt von dreizehn Jahren als Sohn von Linda und David Day und einem halben Jahr in einer Klasse mit Melanie Ward gelernt hatte. Bitter, nicht wahr?
Ronnie ging schnell und blickte starr geradeaus. Ein weiterer Tag in der Idiotenfabrik namens Barkersville Elementary School war vorüber. Er hatte den ganzen Abend vor sich, nach diesem schönen langen Spaziergang nach Hause. Nichts als seine Füße und der Geruch der feuchten Blätter, des frischen Grases und des feuchten Schlamms am Flussufer. Ein feine Portion Frühlingssonnenschein hoch über ihm am Himmel.
Und in rund einer Minute würde er auch anfangen können, langsamer zu gehen und seine Ankunft in der Hölle hinauszuzögern, die sein Zuhause in der letzten Zeit war. Denn bald würde er um die Kurve sein und vorbei an dem Ding auf dem Hügel zu seiner Rechten, dem Ding, an das er nicht denken wollte, dem Ding, an das er denken musste, weil er gezwungen war, täglich zwei Mal daran vorbeizugehen.
Warum konnte er nicht so sein wie die anderen Kinder? Sie wurden von ihren Eltern in glänzenden neuen Mazdas und Nissans abgeholt, in das Einkaufszentrum von Barkersville mitgenommen oder zum Fußballtraining gebracht und danach heim bis vor die Haustür gefahren. Alles was sie tun mussten, war reinzugehen, sich mit Fertiggerichten vollzustopfen und in ihren Zimmern zu verschwinden, um ihren Verstand den ganzen Abend über mit Fernsehen und Nintendo zu betäuben. Sie mussten keine Angst haben.
Klar, es könnte schlimmer sein. Er hatte Hirn, aber das war nichts, worüber man große Sprüche reißen sollte. Seine »überaktive Fantasie« brachte ihn in der Schule oft genug in Schwierigkeiten, aber es war auch irgendwie angenehm, wenn ihn Mitschüler, vor allem Melanie, um Hilfe in Englisch baten.
Deshalb hatte er kein Problem damit, Hirn zu haben, auch wenn er unter dem litt, was sein Vertrauenslehrer als »negative Gedanken« bezeichnete. Zumindest hatte er Gedanken. Ganz im Unterschied zu dieser kleinen Knalltüte von einem Bruder hinter ihm, der nicht genug Verstand hatte, um zu wissen, dass dieser Teil des Wegs kein Ort war, an dem man herumlungern sollte.
»Hey, Ronnie.« Sein Bruder rief nach ihm. Es hörte sich an, als ob es noch oben von der Anhöhe kam. Der Klappspaten hatte doch nicht etwa angehalten ?
»Komm schon.« Ronnie drehte sich nicht um.
»Guck mal.«
»Komm jetzt, oder ich verpass dir ein paar auf die Ohren.«
»Nein, wirklich, Ronnie. Ich sehe was.«
Ronnie seufzte und hielt an, dann schob er seine Schultasche höher auf seine Schulter. Er war seinem kleinen Bruder mindestens 25 Meter voraus. Tim hatte die für ihn typische Trödelei eines Neunjährigen an den Tag gelegt und wiederholt angehalten, um sich die Schuhe zu binden, im Wasser des Straßengrabens nach Kaulquappen zu suchen oder Steine in den Fluss zu werfen, der unterhalb der Straße entlang floss.
Ronnie drehte sich um – linksherum , sagte er sich, damit du sie nicht siehst – und blickte die Schotterstraße entlang zurück auf die Anhöhe, die inmitten der grünen Masse an Bergen fast unterging. Er konnte an mindestens einhundert Gründe denken, um nicht den ganzen Weg zurückgehen zu müssen, um sich das anzusehen, was Tim wollte, dass er sich ansah. Zum einen war Tim oben auf der Anhöhe, was bedeutete, dass Ronnie den steilen Anstieg erklimmen musste. Der Weg nach Hause von der Bushaltestelle war sowieso schon fast eineinhalb Meilen. Warum ihn noch verlängern?
Außerdem gab es noch mindestens neunundneunzig andere Gründe –
wie die rote Kirche
– sich einen feuchten Dreck darum zu kümmern, wohin Tim seine Nase gerade wieder reinsteckte. Dad sollte heute vorbeikommen, um noch mehr von seinen Sachen zu holen, und Ronnie wollte ihn nicht verpassen.
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