Selber schuld!: Ein Wegweiser aus seelischen Sackgassen (German Edition)
wahr? Aber viel schlimmer ist es, das werden Sie zugeben, wenn Sie in einem Ameisenhaufen sitzen und gar nichts spüren! Sie genießen den blauen Himmel, während die Ameisen Sie von allen Seiten anknabbern und in alle erdenklichen Schlitze krabbeln. Stellen wir angesichts dieser Alternative unsere Alarmanlage nicht lieber auf zu sensibel ein?
Es gibt tatsächlich Krankheiten, etwa der diabetische Fuß, die deswegen besonders gefährlich werden, weil der Schmerzimpuls nicht mehr funktioniert und deshalb der Körper nicht auf die Störung aufmerksam gemacht wird. Kleine Verletzungen, die immer wieder vorkommen, werden vom Körper nicht wahrgenommen. Durch mangende Schonung und Pflege kann sich dann eine Infektion einstellen, die letztlich lebensgefährlich wird. Das ist das Zuwenig an Warnsignal. Da ist die Alarmanlage kaputt. Die Beispiele aus der Medizin zeigen, dass die prinzipielle Unfähigkeit, Schmerz zu empfinden, ein lebensgefährliches Defizit ist.
Ebenso machen generell fehlende Schuldgefühle den Menschen zum Ungeheuer, wie die Geschichte eindrucksvoll bewiesen hat. Große Verbrechen gegen die Menschlichkeit wurden von den Tätern euphemistisch umgedeutet: Die von Hanna Arendt meisterhaft beschriebene Banalität des Bösen, mit der Adolf Eichmann seine Ungeheuerlichkeiten verharmloste, ist heute jedermann durch die ins Internet gestellten Prozessfilme zugänglich. Psychotherapie hat nicht die Aufgabe, die Schmerzleitungen dermaßen außer Kraft zu setzen, dass das rettende Warnsignal nicht mehr durchkommt. Denn dann kann die Schmerzursache nicht beseitigt werden und wirkt weiter fort.
Das gesunde Schuldbewusstsein
Die französische Psychoanalytikerin Maire-France Hirigoyen hat mit ihrem Bestseller »Die Masken der Niedertracht« 1998 eine heftige und anhaltende öffentliche Diskussion ausgelöst. Sie beschreibt darin die »Versuchung« (komisch – ein Begriff aus der Religion!), narzisstische Mechanismen für den eigenen Vorteil zu benutzen. »Es ist uns allen schon passiert, dass wir einen anderen manipuliert haben, um einen Vorteil zu erlangen, und wir haben alle flüchtig zerstörerischen Hass empfunden.« Im nächsten Gedankenschritt unterscheidet sie dann gesund von krank: »Von den perversen Individuen unterscheidet uns, dass diese Verhaltensweise oder Empfindung nur vorübergehend war, gefolgt von Gewissensbissen oder Reue.« Perversität hingegen folge seinen egoistischen Interessen »ohne irgendwelche Schuldgefühle«.
Schuldbewusstsein, Schuldgefühle, Gewissensbisse und ein »schlechtes Gewissen« sind an und für sich Zeichen für psychische Gesundheit. Das klingt für den Laien provokant, leuchtet Ihnen aber sofort ein, wenn Sie einmal therapeutisch mit Missbrauchstätern gearbeitet haben. Am Anfang der Psychotherapie wird der traurige Tatbestand in der Regel geleugnet, verharmlost und uminterpretiert. Als Therapieerfolg werten muss man ja schon einen zarten Schimmer von Unrechtsverständnis – und eben ein wachsendes Schuldbewusstsein. Es geht nicht darum, dem Missbrauchstäter Schuldgefühle einzupflanzen, es geht darum, die verdrängte Schuld ins Bewusstsein zurückzuholen. Denn nur dieses Bewusstsein von Schuld macht Reue und damit eine Verhaltensänderung möglich. Natürlich sind wir nicht alle Missbrauchstäter – aber mir scheint, dass wir in puncto Selbstbetrug oft nicht so weit davon entfernt sind, wie wir oft selbstgefällig annehmen.
In einem psychologischen Online-Wörterbuch – solche Webpages haben keinen wissenschaftlichen Anspruch, zeigen aber häufig den Trend der Wirtshauspsychologie an – findet sich folgende Definition von »Schuldbewusstsein«: »Form von sozialer Angst; aus psychoanalytischer Sicht ursprünglich die Angst vor der Strafe der Eltern bzw. vor deren Liebesverlust.« Ob dieser Definition kann man nur staunen: Keine Rede davon, dass Schuldbewusstsein etwas mit der persönlichen Erkenntnis eigenen Schuldigseins zu tun haben könnte. Übertragen wir diese Definition auf den eingangs geschilderten Fall von Heinrich Faust: Der Patient Faust kommt nach vier von ihm verschuldeten Todesopfern (Gretchen, Mutter, Bruder, Kind) voll Schuldbewusstsein zum Analytiker, der weiß, dass Fausts Schuldbewusstsein nicht mehr als eine »Form von sozialer Angst« ist … Den Rest überlasse ich Ihrer Phantasie. Durch die neuere Entwicklung der Psychotherapieforschung lässt sich hier erfreulicherweise langsam ein Umdenken erahnen, aber eine signifikante Minderheit
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