Selber schuld!: Ein Wegweiser aus seelischen Sackgassen (German Edition)
Betrügen meint er: »Was ist überhaupt ›betrügen‹? Nur Geschlechtsverkehr? Das ist ja eigentlich nur eine sportliche Leistung, da sind keine Rückstände da … Viel schlimmer sind diese emotionalen Bindungen, und das würde ich niemals tun, dazu liebe ich meine Frau viel zu sehr.« Warum er an diesem riskanten Hobby hänge: »Ich will den Genen keine Schuld geben, aber wahrscheinlich sind sie’s. Es gibt Männer, die wenig an Frauen interessiert sind, Männer, die gar nicht interessiert sind, und welche, die sehr interessiert sind. Meine beiden Onkeln waren auch Weiberhelden – das soll natürlich keine Ausrede sein!« Zum Schluss die Selbstanalyse: »Ich bin nicht sexsüchtig, es macht mir einfach Spaß. Ich sage nicht: ›Das brauch ich unbedingt.‹ Das ist so wie Alkohol: Ich kann auch ohne Bier leben, ich trinke aber gerne eines … Ich habe kein Problem damit – meine Frau hat ein Problem mit der Situation …«
ANALYSE: Das Denken und die Selbstrechtfertigung des Alfred G. zeigen, welches Ausmaß Schuldverdrängung erreichen kann: Herr G. deutet sein Geheimhalten zur Rücksichtnahme um, zelebriert vor dem Therapeuten die Liebe zu seiner Frau, lobt sich als einer, der auf sein Herz aufpasse, und hält sich für anständig, weil er niemanden »betrogen« habe. Dabei übersieht er die Paradoxie seiner Aussage.
Die Verdrängung der Schuld
In den »Aufzeichnungen aus einem Kellerloch« schreibt Fjodor Michailowitsch Dostojewski 30 Jahre vor Freud: »Jeder Mensch hat Erinnerungen, die er nicht jedem erzählen würde, sondern nur seinen Freunden. Anderes, was er im Sinn trägt, würde er noch nicht einmal seinen Freunden erzählen, sondern nur sich selbst, und das heimlich. Aber dann gibt es noch andere Dinge, die sogar sich selbst zu erzählen er Angst hätte, und jeder anständige Mensch hat eine Reihe solcher Dinge tief in seinem Geist vergraben.« Dass dieser Dreischritt besonders für das Thema Schuld zutrifft, wird niemanden ernsthaft verwundern.
Dieses Phänomen der Verdrängung hat Sigmund Freud, der viele bahnbrechende Entdeckungen im menschlichen Seelenleben gemacht hat, wissenschaftlich beschrieben und theoretisch begründet. Mit »Verdrängung« bezeichnet die Psychoanalyse heute den wichtigsten Abwehrmechanismus, durch den tabuisierte und bedrohliche Inhalte und Vorstellungen von der bewussten Wahrnehmung des Menschen ausgeschlossen und ins Unbewusste abgedrängt werden. Oft handelt es sich bei verdrängten Inhalten um schmerzliche und ängstigende Erfahrungen, die von negativen Affekten begleitet werden.
Aber was genau sind tabuisierte und bedrohliche Inhalte und Vorstellungen, die Angst machen? Hier folgen heute nicht mehr alle Schüler ihrem Meister. Freud selbst meinte nämlich, der Mensch stoße bei der Verdrängung »den Trieb und dessen Vorstellungen« in das Unbewusste zurück und halte ihn dort fest. Die Verdrängung geschehe in den Fällen, in denen die Befriedigung des Triebes im Hinblick auf andere Forderungen Gefahr laufe, Unlust hervorzurufen. Welchen Trieb Freud meinte, ist heute jedem klar, der seine Schulpflicht halbwegs erfolgreich zu Ende gebracht hat: »Die Neurosen sind der Ausdruck von Konflikten zwischen dem Ich und solchen Sexualstrebungen, die dem Ich als unverträglich mit seiner Integrität oder seinen ethischen Ansprüchen erscheinen. Das Ich hat diese nicht ichgerechten Strebungen verdrängt.« Als Kurzformel: Neurose ist Verdrängung von Sexualität. Die theoretische Verabsolutierung der Sexualität bei Freud ist schon der Grund des inhaltlichen Auseinanderdriftens mit Alfred Adler und Carl G. Jung gewesen; schließlich hat Viktor Frankl den Begriff »Verantwortung« in das freudianische Modell eingebracht, um diesen Mangel zu ergänzen.
Wenn wir die Werke und darin besonders die Fallbeschreibungen Freuds aber genau lesen, stellen wir fest, dass auch bei Freud nicht jede Sexualität verdrängt wird, sondern nur schuldhaft erlebte Sexualität: etwa Inzest oder Ehebruch. Denn das wirklich Bedrohliche ist nicht die Sexualität, sondern die Schuld. Freud sagt dazu manchmal »verbotene Sexualität«. Das erleben Menschen heute nicht mehr so, deswegen muss Sex auch in der Jetztzeit nicht mehr verdrängt werden. Aber verdrängt wird heute mindestens noch genauso viel Angstmachendes und Bedrohliches wie damals: die eigene Schuld nämlich. In der Psychiatrie begegnet man heutzutage kaum noch Menschen, die Sexualität verdrängen. Sicherlich, manchmal sieht man
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