Mount Maroon
PROLOG
Endlich war der Wagen gegen einen Baum geprallt und auf dem Dach liegen geblieben. Der Junge konnte nicht sagen, wie oft er sich zuvor überschlagen hatte. Das Letzte, was er bewusst erlebt hatte, war der Aufprall des anderen Autos gegen die linke Frontpartie des Pontiacs seiner Eltern. Diese lagen jetzt leblos und in unnatürlich verrenkter Haltung vor ihm. Er weinte, schrie nach seinem Vater und rüttelte am Arm seiner Mutter, bis ihm der Atem stockte. Irgendetwas strömte ins Innere, heiß und stickig. Er stemmte sich gegen die Scheibe, auf der dem Baum abgewandten Seite. Hier erkannte er seine einzige Fluchtmöglichkeit. Er versuchte das Fenster mit der Handkurbel zu öffnen. Es ruckte kurz, ließ sich aber nicht aufdrehen. Offenbar hatte sich das Zugseil verhakt. Die kleinen, heißen Hände griffen immer wieder zu dem Hebel, der jedoch keinen Millimeter nachgab. Die Glasscheibe war fest wie ein Fallgitter. Dann durchzuckte den Wagen ein heller Blitz, eine Explosion. Flammen loderten auf. Eine unerträgliche Hitze erfasste den Körper des Jungen. Panik kam in ihm hoch. Mit bloßen Fäusten schlug er gegen das Glas, nahm schließlich die Ellenbogen, ohne dabei Schmerzen zu spüren. Qualm drang aus den kleinen Ritzen neben dem Rücksitz in den Innenraum. Mit letzter Kraft wandte er sich um, legte sich auf den Rücken und versuchte das Fenster durch verzweifelte Tritte zu zerschmettern. Aber auch diese Bemühungen blieben erfolglos. Wieder drehte er sich herum, wand sich wie ein in die Falle geratenes Tier, stieß verzweifelte Schreie aus. Hoffnungslosigkeit, Todesangst. Nach Leibeskräften trommelte der Junge gegen die Scheibe. Auf dem Bauch liegend, sah er ins Freie. Hinter einem Busch erspähte er eine Bewegung. War da ein Mann oder hatte er es sich nur eingebildet? Er klopfte gegen das Glas, doch niemand schien ihn zu hören, niemand kam, um ihn zu retten. Dunkler, bläulicher Rauch erfüllte das Innere des Wagens. Er war verloren, würde sterben, zusammen mit seinen Eltern; heute, an seinem sechsten Geburtstag.
1. GEWITTERSTURM
Peter bemerkte die leichte Vibration an der Oberfläche seines Kaffees. Sie zeigte sich im orangeroten Widerschein des Lagerfeuers durch eng aufeinanderfolgende konzentrische Kreise, die langsam vom Mittelpunkt der Blechtasse nach außen drangen. Seine Hand hingegen war vollkommen ruhig, ebenso der Unterarm, der auf seinem rechten Oberschenkel auflag. Er selbst saß mit lang ausgestreckten Beinen auf dem weichen bemoosten Waldboden, den Rücken an einen dicken Baum gelehnt. Weder in seinen Armen noch in den Beinen war ein Pulsieren zu spüren. Das Zittern schien ganz und gar die Sache der Flüssigkeit zu sein. Heißer Kaffee, der in seiner Tasse fröstelte? Peter sah zu seinem Freund hinüber. Luther hockte auf dem geraden Stamm einer gefällten Kastanie. Der neben seinen groben Wanderstiefeln stehende Becher war bereits zur Hälfte geleert, sodass die Oberfläche seines Getränks im Schatten lag.
Sie hatten sich diese Stelle für ihr Nachtquartier ausgesucht, weil der Platz nach ihren Berechnungen morgens in der Sonne liegen musste. Das ist nach einer Nacht, die man in den Bergen unter freiem Himmel verbringt, nicht unwesentlich, da es auch im Sommer morgens noch empfindlich kalt sein kann und man vor dem Aufbruch die vom Tau der Nacht klammen Sachen trocknen möchte. Peter und Luther waren passionierte Wanderer, die es sich seit ihrer Studienzeit herausnahmen, mindestens zweimal pro Jahr mehrtägige Touren zu unternehmen. Sie hatten es sich zum Ziel gesetzt, in allen amerikanischen Nationalparks zu wandern, sofern diese nicht hauptsächlich aus Wüsten oder Sümpfen bestanden. Diesmal führte sie ihre Abenteuerlust in die Great Smoky Mountains, einem etwa 210.000 Hektar großen Naturschutzgebiet in den Appalachen, das zu den Blue Ridge Mountains gehört und abseits des Blue Ridge Parkway von der Zivilisation noch weitgehend unberührt war.
Luther van Eyck, der Arzt aus Atlanta, und Peter Saunders, der Verlagsredakteur aus Annapolis, verwandelten sich für einige Tage in jene wagemutigen Männer, die einstmals mit glühendem Herzen in einen noch unentdeckten Kontinent vorstießen. Freilich war die Situation heutzutage eine andere. Es gab Karten, Wege, Handys und die ständige Möglichkeit, das Abenteuer abzubrechen, aber mit etwas Fantasie und dem richtigen Blick für die Urwüchsigkeit einer immer noch vorhandenen Wildnis konnte man zumindest den Geist eines
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