Selbs Betrug
ihm gestern abend auf einer Party vorgestellt worden. Mich behandelte er mit einem eleganten Respekt, der allem gerecht wurde, was ich für Leo sein mochte: Großvater, Vater oder älterer Herr. »Sie können natürlich gerne hier warten. Aber vielleicht mögen Sie lieber in einer Stunde wiederkommen?«
Ich spazierte zum Paradeplatz, kaufte die Süddeutsche und las sie im Café Journal über einem Eis und einem Espresso. Auf der Technik- und Wissenschaftsseite lernte ich, daß Küchenschaben ein inniges Familienleben pflegen. Wir tun ihnen unrecht, wenn wir sie verabscheuen. Dann sah ich die Flasche Sambuca im Regal hinter der Bar. Ich trank einen auf Leo, den nächsten auf ihre Freiheit und den dritten auf ihre neue Frisur. Es ist erstaunlich, wie der eine oder andere Sambuca die Welt zurechtrücken kann. Nach einer Stunde trat ich wieder in den Salon.
»Einen Moment noch«, rief hinten der Figaro, der mich sah, obwohl ich ihn nicht sah. Ich setzte mich. »Wir kommen!«
Natürlich weiß ich, daß Frauen anders vom Friseur kommen, als sie zu ihm gehen. Deswegen gehen sie hin. Ich weiß auch, daß sie danach meistens unglücklich sind. Sie brauchen eine Weile und brauchen unsere Bewunderung und Bestätigung. Jede kritische, erst recht jede besserwisserische oder schadenfrohe Bemerkung verbietet sich. Wie der tapfere Indianer keinen Schmerz, so zeigt der tapfere Teilnehmer einer Frisurpremiere keinen Schreck.
Einen Moment lang erkannte ich Leo nicht. Einen Moment lang dachte ich, daß die junge Frau mit dem bürstigen Kopf jemand anderes ist, und setzte mein aufmerksames, anerkennendes Gesicht ab. Als ich sie erkannte und es wieder aufsetzte, war es zu spät.
»You don’t like it.«
»Doch, ich mag’s. Du siehst strenger und herber aus. Du erinnerst mich an die Frauen in den existentialistischen französischen Filmen aus den fünfziger Jahren. Zugleich siehst du jünger aus, zart und fein. Ich …«
»No, you don’t like it.«
Sie sagte es so bestimmt, daß ich den Mut verlor. Dabei war es nicht ganz falsch gewesen, was ich gesagt hatte. Ich mochte die Frauen in den existentialistischen französischen Filmen, und Leo hatte etwas von deren verletzlicher Entschlossenheit. Ich mochte auch Leos Kopf, dessen schöne Form die fingerbreit gestutzten Haare sichtbar machten. Ich hatte ihre Locken geliebt, aber wenn sie weg waren, dann waren sie weg. Locken laden die Hand ein, darin zu wühlen, ein bürstiger Kopf, darüber zu streichen, und das paßte auch besser. Wenn Leo nur nicht so geschoren ausgesehen hätte. Sie sah nach Gefängnis aus, nach Anstalt, und ich hatte Angst.
»Okay, let’s go.«
Ich zahlte, wir gingen zum Auto und fuhren nach Hause. »Willst du dich hinlegen und ausruhen?«
»Why not.«
Sie legte sich aufs Sofa. Sein Leder ist kühl und erlaubt auch im heißen Sommer den kuscheligen Komfort einer leichten Decke. Ich deckte Leo zu und machte die Balkontür weit auf. Turbo kam herein, durchmaß das Zimmer, sprang aufs Sofa und kringelte sich an Leos Seite. Sie hatte die Augen geschlossen.
Ich ging auf Zehenspitzen in die Küche. Dort setzte ich mich an den Tisch, breitete die Zeitung aus und tat, als ob ich lese. Der Wasserhahn tropfte. Am Fenster brummte eine dicke Fliege.
Dann hörte ich Leo leise weinen. Weinte sie sich in den Schlaf? Ich wartete und lauschte. Das Weinen wurde lauter, gleichmäßig, kehlig, stöhnend und klagend. Ich ging hinüber, setzte mich zu ihr, redete mit ihr, hielt sie und streichelte sie. Sie verstummte, aber die Tränen flossen weiter. Nach einer Weile setzte die Klage wieder ein, schwoll wieder an und verstummte wieder. So ging es fort und fort. Die Tränen versiegten nie.
Ich mochte lange nicht wahrhaben, daß ich der Situation nicht gewachsen war. Aber dann wurde das Klagen so heftig, daß Leo eine Weile keine Luft bekam. Ich rief Philipp an. Philipp riet mir, mit Eberlein zu sprechen. Eberlein wies mich an, Leo sofort ins Psychiatrische Landeskrankenhaus zu bringen. Auf der Fahrt weinte sie weiter. Sie hörte auf, als ich sie vom Auto zum alten Bau führte.
Auf der Heimfahrt weinte ich.
33
Ins Gefängnis
Es wurde ein langer, heißer Sommer. Für zwei Wochen fuhr ich mit Brigitte und Manu an die See, sammelte Muscheln und Seesterne und baute eine Sandburg. Sonst saß ich viel auf meinem Balkon. Ich traf Eberhard im Luisenpark zum Schachspielen und Philipp auf seiner Yacht zum Angeln. Manchmal übte ich Flöte, manchmal Plätzchenbacken für Weihnachten.
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