Selbs Justiz
Chlorgeschmack mit einem Glas Milch weg und versuchte mir einen neuen Verband zu machen. Das Telefon unterbrach mich.
»Herr Selb, das waren doch Sie vorhin, der zusammen mit Herzog die rcw verlassen hat? Hat das Werk Sie in die Ermittlungen eingeschaltet?« Tietzke, einer der letzten aufrechten Journalisten. Nach dem Ende des
›Heidelberger Tageblatt‹ hatte er eine Stelle bei der
›Rhein-Neckar-Zeitung‹ gefunden, dort aber einen schweren Stand.
»Welche Ermittlungen? Bekommen Sie man keine
falschen Ideen, Tietzke. Ich hatte in anderer Angelegenheit bei den rcw zu tun, und ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mich nicht gesehen hätten.«
»Ein bißchen mehr müssen Sie mir schon sagen,
wenn ich nicht einfach schreiben soll, was ich gesehen habe.«
»Über meinen Auftrag kann ich beim besten Willen nicht reden. Aber ich kann versuchen, Ihnen ein Exklu-sivinterview mit Firner zu verschaffen. Ich werde heute nachmittag noch mit ihm telefonieren.«
Ich brauchte den halben Nachmittag, bis ich Firner 43
zwischen zwei Sitzungen erwischte. Er konnte Sabotage weder bestätigen noch ausschließen. Schneider liege nach Auskunft seiner Frau mit Mittelohrentzündung im Bett. Also hatte auch ihn interessiert, warum Schneider nicht zur Arbeit gekommen war. Er war unwillig bereit, Tietzke am nächsten Morgen zu empfangen. Frau Buchendorff werde sich mit ihm in Verbindung setzen.
Danach versuchte ich, Schneider anzurufen. Es nahm niemand ab, was alles oder nichts bedeuten konnte. Ich legte mich ins Bett, konnte trotz der Schmerzen im Arm einschlafen und wachte zur Tagesschau wieder auf.
In den Nachrichten wurde mitgeteilt, daß die Chlor-gaswolke in östlicher Richtung aufsteige und daß die Gefahr, die gar nie bestanden habe, im Laufe des Abends vorbei sei. Die Ausgangssperre, die auch keine gewesen sei, werde um 22 Uhr enden. Ich fand im Eisschrank ein Stück Gorgonzola und machte damit eine Soße zu den Tagliatelle, die ich vor zwei Jahren aus Rom mitgebracht hatte. Es machte Spaß. Mußte erst die Ausgangssperre kommen, damit ich mal wieder kochte.
Ich brauchte keine Uhr, um mitzubekommen, wann es 22 Uhr war. Auf den Straßen war ein Lärm, als wäre Waldhof Deutscher Meister geworden. Ich setzte meinen Strohhut auf und ging zum ›Rosengarten‹. Eine Band, die sich ›Just for Fun‹ nannte, spielte Oldies. Die Becken des terrassierten Brunnens waren leer, und die jungen Leute tanzten darin. Ich foxtrottete ein paar Spazierschritte – Kies und Gelenke knirschten.
Am nächsten Morgen fand ich im Briefkasten eine 44
Postwurfsendung der Rheinischen Chemiewerke, in der zum Vorfall eine bis aufs letzte Wort sitzende Stellung-nahme abgegeben wurde, »rcw schützt Leben«, erfuhr ich, und daß ein gegenwärtiger Forschungsschwerpunkt die Erhaltung der Lebensfähigkeit des deutschen Waldes sei. Ja, dann. Der Sendung lag ein kleiner Plastikku-bus bei, in den ein gesunder deutscher Tannensamen eingeschweißt war. Das war possierlich anzuschauen.
Ich zeigte das Objekt meinem Kater und stellte es auf den Kaminsims.
Beim Bummel über die Planken holte ich meinen
Wochenvorrat Sweet Afton, kaufte beim Fleischer auf dem Markt ein warmes Leberkäsbrötchen mit Senf, be-suchte meinen Türken mit den guten Oliven, sah den vergeblichen Bemühungen der Grünen zu, mit ihrem Info-Stand am Paradeplatz das Einvernehmen zwischen den rcw und der Bevölkerung Mannheims und Ludwigshafens zu stören, und erkannte unter den Umste-henden Herzog, der sich mit Flugblättern versorgen ließ.
Nachmittags saß ich im Luisenpark. Er kostet was, wie das Tivoli. Also hatte ich zum Jahresanfang erstmals einen Jahresausweis erstanden, den ich amortisie-ren wollte. Wenn ich nicht den Rentnern zusah, die die Enten fütterten, las ich im ›Grünen Heinrich‹. Frau Buchendorffs Vorname hatte mich darauf gebracht.
Um fünf Uhr ging ich nach Hause. Den Knopf am
Smoking anzunähen kostete mich mit meinem kaputten Arm eine gute halbe Stunde. Ich fuhr mit dem Taxi vom Wasserturm zum rcw-Kasino. Über den Eingang war 45
ein Transparent mit chinesischen Schriftzeichen gespannt. An drei Masten flatterten die Fahnen der Volks-republik China, der Bundesrepublik Deutschland und der rcw im Wind. Rechts und links vom Eingang standen zwei Pfälzerinnen in Tracht und sahen so authentisch aus wie die Barbie-Puppe als Münchner Kindl.
Die Vorfahrt der Wagen war in vollem Gang. Es wirkte alles rechtschaffen und würdig.
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9
Der Wirtschaft ins Dekolleté
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