Unter dem Feuer - Silvanubis #1 (German Edition)
Kapitel 1
Trümmer
Der gewaltige, scharlachrote Vogel zog unablässig seine Runden, nur das regelmäßige Rauschen der Flügel war zu hören. Die Stadt schlief, schweigsam und friedvoll. Mit kräftigen Schlägen seiner riesigen Schwingen glitt er unermüdlich durch die Dunkelheit. An den Federspitzen zuckten kleine, blaugelbe Flammen, die die Häuser in ein gespenstisches Licht tauchten. Allmählich wanderten die blitzenden Funken von den Flügeln über den massiven Körper und den langen Hals bis zum Kopf. Als die Glut die orangefarbenen Augen erreichte, stieß der Vogel einen heulenden Schrei aus. Metallisch, blechern.
In gleichmäßigen Wellen breitete sich das Echo in die Tiefe der Nacht aus, bis es verstummte und der Phönix zu Asche zerfiel. Der Wind trug sanft graue Flocken davon und als sich die ersten sacht auf die Giebel legten, fielen die Häuser mit einem ohrenbetäubenden Donner in sich zusammen. Behutsam legte die schwarze Nacht ihre tröstende Decke über die Zerstörung. Sterne standen am Himmel, erst eine Handvoll, dann Hunderte, Tausende und am Horizont erglühte ein rotgelber Schimmer.
Anna saß senkrecht im Bett. Auf ihrer Stirn hatte sich ein dünner Schweißfilm gebildet. Mit eiskalten Händen fuhr sie sich über das Gesicht, schwang die Beine über die Kante und rieb sich die Arme. Das milchige Licht des Mondes schimmerte durch die mit Eiskristallen beschlagene Scheibe. Anna riss das Fenster auf. Frostige Luft strömte ins Zimmer. Gierig sog sie die kalte Nachtluft ein und sprang mit einem Satz zurück ins Bett. Unter dem dünnen Kissen tastete sie nach dem zerkratzten silbernen Benzinfeuerzeug. Ihr Vater hatte es ihr an dem Abend mitgegeben, als die Bomben fielen. Einen Moment ließ sie es in der Hand ruhen, dann zündete sie die dicke, braune Kerze auf dem altersschwachen Holztisch hinter ihrem Bett an. Das warme Licht erfüllte wie üblich seinen Zweck. Langsam beruhigte sie sich.
Jede Nacht kehrte der Traum zurück. Die Sirenen, die die Bomberverbände angekündigt hatten, waren vor fast zwei Jahren endlich verstummt. Nun ersetzte das bedrohliche an- und abschwellende Heulen des Phönixes Nacht für Nacht das unheimliche Dröhnen.
Immer wieder sah sie den gewaltigen, brennenden Vogel, die Asche und die zerstörten Häuser. Der blecherne Klang hallte immer noch in ihren Ohren.
Ihr Vater hatte sie abends noch einmal zum Laden geschickt.
»Sei so gut, Anna, hol mir eins der kleinen Holzautos. Ich denke, wir haben noch einige im Regal stehen. Moritz hat morgen Geburtstag, er soll wenigstens ein Geschenk bekommen.«
Er drückte ihr das zerkratzte Feuerzeug in die Hand. »Mach dir dort eine Kerze an, es ist schon fast dunkel. Falls es Stromsperre gibt.«
Anna verdrehte die Augen. »Papa, du kannst doch nicht alles verschenken.«
Mit einem Kuss auf die Stirn und einer flüchtigen Umarmung schob er sie energisch zur Tür hinaus. »Doch, mein Kind, das kann ich. Uns geht es doch gut. Beeil dich.«
Sie zuckte mit den Schultern und zog widerstrebend los.
Kaum hatte sie das kleine Spielzeuggeschäft erreicht, begann das Heulen der Sirenen. Es jagte ihr jedes Mal eine Gänsehaut über den Rücken. Nie würde sie es rechtzeitig nach Hause schaffen. Atemlos hetzte Anna in den behelfsmäßig hergerichteten Luftschutzraum im Keller des Ladens. Sie hockte sich unter die Werkbank ihres Vaters, presste die Handflächen auf die Ohren und hoffte, dass es dieses Mal nicht so lange dauern würde. Gerade einmal zehn Minuten fielen die Bomben. Das Donnern und Tosen verstummte. Stille legte sich wie ein Leichentuch über die kleine Stadt am Rande des Ruhrgebiets. Wer genug Zeit hatte, in die Sicherheit von Kellern oder Bunkern zu flüchten, konnte sich glücklich schätzen. Annas Eltern hatten kein Glück gehabt. Freunde bargen sie aus den Trümmern, brachten sie auf Handkarren zum Friedhof und beerdigten sie. Sie besorgten Anna ein Bett, einen Tisch, einen weiß emaillierten Kohleofen und zwei alte Stühle und bauten die Möbel neben den Regalen des Lagerraums auf. Seither wohnte sie in dem engen Raum des Spielwarengeschäftes, das wie durch ein Wunder unversehrt geblieben war. Die Freunde ihrer Eltern kümmerten sich rührend um sie. Allein war sie nicht, sie war einsam.
Anna strich sich eine widerspenstige Locke hinter das Ohr. Das musste aufhören. Sie war es leid, Nacht für Nacht mit klopfendem Herzen von einem Traum hochzuschrecken, der ihr wie ein lästiger Gast
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