Selbs Mord
wer sie verließ, und im ersten Stock das Getriebe im großen Büroraum, das Aufstehen und Hinsetzen, Hinundherlaufen. In Welkers Büro waren Vorhänge aus metallenen Ketten zugezogen und ließen nichts erkennen. Aber als ich aufstand, um mich drinnen an den Tisch am Fenster zu setzen, ging der Vorhang auf, und Welker öffnete das Fenster, stützte die Hände aufs Sims und schaute über den Platz. Ich machte, daß ich hineinkam, sah ihn schauen, den Kopf schütteln und nach einer Weile das Fenster schließen. Der Vorhang ging wieder zu und das Licht an.
Der Publikumsverkehr war gering. Von den wenigen, die die Bank aufsuchten, taten es die meisten mit Auto; sie fuhren vor das Tor, das aufschwang, sie herein- und nach etwa einer halben Stunde wieder hinausließ. Um fünf verließen vier junge Frauen die Bank, um sieben drei junge Männer. Das Licht in Welkers Büro brannte bis halb zehn. Ich hatte mir Sorgen gemacht, ob ich es schaffen würde, schnell genug an meinem Auto zu sein, um ihm folgen zu können. Aber ich stand auf dem Schloßplatz und wartete vergebens, daß das Tor aufschwingen und er hinausfahren oder durch die ins Tor eingelassene Tür treten würde. Die Bank lag dunkel. Nach einer Weile schlenderte ich über den Platz und um den Block. Ich fand keine zweite Zufahrt zur Bank. Aber aus einem zugänglichen benachbarten Hof hatte ich den Blick auf das Dach der Bank; es war zur Rückseite ausgebaut, und die Fenster und die Balkontür waren hell erleuchtet. Ich konnte erkennen, daß an einigen Wänden Bilder hingen und daß die Vorhänge aus Stoff waren. Das waren keine weiteren Büroräume, das war eine Wohnung.
Ich fuhr nicht gleich nach Hause. Ich rief Babs an, eine alte Freundin, Lehrerin für Deutsch und Französisch, nie vor Mitternacht im Bett.
»Klar kannst du noch vorbeikommen.«
Sie korrigierte Aufsätze, bei einer zweiten Flasche Rotwein und einem vollen Aschenbecher. Ich erzählte von meinem Fall und bat sie, am nächsten Morgen eine Detektei in Straßburg anzurufen und nach Juristen suchen zu lassen, die zwischen 1885 und 1918 in Straßburg gewohnt hatten und deren Vor- oder Nachname mit L, C oder Z begann. Ich kann kein Französisch.
»Welche Detektei?«
»Ich sag sie dir morgen früh. Wir haben Anfang der fünfziger Jahre zusammengearbeitet; ich hoffe, es gibt sie noch.«
»Wie bist du damals mit dem Französisch zurechtgekommen?«
»Der dortige Kollege konnte Deutsch. Aber er war damals schon alt, es gibt ihn bestimmt nicht mehr. Ein Junge aus Baden-Baden war in die Fremdenlegion geraten, vermutlich verschleppt worden, und wir haben herausgefunden, wo er war. Herausgeholt haben nicht wir ihn; dafür mußten Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt werden, Botschafter und Bischöfe. Immerhin haben wir überlegt, wie wir es versuchen würden. Stell dir vor, ein deutschfranzösisches Kommandounternehmen wenige Jahre nach Kriegsende.«
Sie lachte. »Hast du Sehnsucht nach den alten Zeiten? Als du jung warst und stark und alles drin war?«
»Alles drin – das war’s schon im Krieg nicht mehr und nach dem Krieg erst recht nicht. Oder meinst du, ob mich das Altern beschäftigt? Tut es, auch wenn ich, wenn man so will, schon alt bin. Früher dachte ich, eines Tages fängt man an zu altern, altert und ist ein paar Jahre später mit dem Altern fertig und alt. Aber so ist es nicht. Das Altern geht immer weiter, man ist damit nie fertig.«
»Ich freue mich auf die Pensionierung. Ich unterrichte nicht mehr gerne. Die Kinder machen ihr Ding, ziehen die Schule durch und dann die Ausbildung zum Beruf und lassen sich von nichts erschüttern, keinem Buch, keiner Idee, keiner Liebe. Ich mag sie nicht mehr.«
»Und deine eigenen?«
»Natürlich habe ich sie lieb. Und als Röschen die Haare nicht mehr grün gefärbt und wachsen gelassen hat, habe ich mich gefreut. Daß sie ein glänzendes Abitur gemacht hat und von der Studienstiftung des Deutschen Volkes gefördert wird und schon nach zwei Semestern Betriebswirtschaft für ein Jahr an der London School of Economics war, ist phantastisch. Weißt du, daß sie schon jetzt als Studentin mehr verdient als ich als alte Lehrerin?«
Ich schüttelte ungläubig den Kopf.
»Sie hat eine kleine, erfolgreiche Fundraising-Firma, und weil beim Fundraising alles darauf ankommt, wer wann Geburtstag und welche Firma wann ein Jubiläum hat, welche Interessen mögliche Spender haben und was für Leben ihre Vorfahren gelebt haben, hat Röschen eine gewaltige Datenbank
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