Selbs Mord
hat. Kein Wort. Brigitte hat mich gefragt: »Warst du nicht Staatsanwalt? Kannst du ihn nicht verteidigen?« Ich habe mir sagen lassen, ich könne die Zulassung als Anwalt bekommen. Daß Welker weg ist, macht die Verteidigung leichter.
Was habe ich auf dem Schwetzinger Schloßplatz gesucht? Das Ende der Geschichte? Sie war zu Ende. Es hingen keine Schicksalsfäden mehr lose herum. Aber auch wenn mir klar war, daß am Ende einer Geschichte nicht die Gerechtigkeit siegen muß – daß Welker so davonkommen sollte, während Ulbrich im Gefängnis saß und Schuler und Samarin unter der Erde lagen, mochte ich nicht als Ende akzeptieren, und wieder quälte mich die Ohnmacht, nichts mehr tun, nichts mehr in Ordnung bringen zu können.
Bis ich begriff, daß es meine Entscheidung war, ob ich das Ende als ungerecht und unbefriedigend verstehen und daran leiden wollte, oder ob ich beschloß, daß es so, genau und gerade so seine Richtigkeit hat. Es war in jedem Fall meine Entscheidung. Auch ein toter Welker oder ein Welker im Gefängnis und ein glücklicher Karl-Heinz Ulbrich und sogar ein Schuler, der weiter Akten pflegte, und ein Samarin, der weiter Geld wusch, wären nicht schlechthin gerecht und befriedigend, sondern ich mußte es beschließen. Also versuchte ich’s. Zwar habe ich das Ende nicht geradewegs akzeptiert. Aber lag nicht wirklich eine Richtigkeit darin, daß Samarin ein Kämpfer gewesen und im Kampf erschossen worden war und daß Schuler für eine Wahrheit gestorben war, die sein geliebtes Archiv barg? Dafür, daß Karl-Heinz Ulbrich nicht lange im Gefängnis sitzen würde, ließ sich etwas tun. Welker? Brigitte und ich konnten Ferien in Costa Rica machen.
Wenn es der Arzt erlaubt. Er ist ein alter Freund von Philipp und war in Mannheim sein Kollege, ehe er die Abteilung auf dem Speyerer Hof übernahm.
Er wiegt den Kopf und zuckt die Schultern, wenn ich ihn frage, wie es um mich steht und mit mir weitergeht. »Was wollen Sie, Herr Selb, Ihr Herz ist einfach ausgelatscht.« Ausgelatscht. Aber ich weiß selbst, daß meine Operation kein Erfolg war. Sonst hätten sie es mir gesagt. Sonst wäre ich nicht so müde. Manchmal ist mir, als wolle die Müdigkeit mich vergiften.
Ich war froh, als die Taxe kam.
Der Autor dankt dem Center for Scholars and Writers
an der New York Public Library,
als dessen Fellow er Selbs Mord im Winter
2000/2001 fertiggeschrieben hat.
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