Selbst denken: Eine Anleitung zum Widerstand (German Edition)
dass Sie längst etwas tun, was Sie freiwillig und bewusst nie beabsichtigt haben: Sie verzichten auf Ihre Freiheit, Ihr Leben nach Ihren eigenen Entscheidungen einzurichten. So wie Sie sich Ihren Lebensraum mit Produkten vollstellen, von denen Sie bis vor kurzem gar nicht wussten, dass Sie sie jemals haben wollen würden, so wenden Sie immer mehr Zeit dafür auf, sich in diesem Konsumuniversum für oder gegen irgendetwas zu entscheiden: Sie lesen Tests und Erfahrungsberichte, arbeiten sich durch Bedienungsanleitungen und Updates, rufen Preisvergleiche ab, schließen Verträge aller Art ab – weshalb Sie immer mehr kaufen, aber immer weniger konsumieren, was Sie gekauft haben.
Sie befriedigen also in Wahrheit nicht Ihre Bedürfnisse, sondern die eines Marktes, den es ohne Sie gar nicht gäbe. Sie sind wie der Mieter eines 20-Quadratmeter-Apartments, der auf den Balkon gehen muss, um den »Tatort« auf seinem Fernseher mit 60-Zoll-Bildschirmdiagonale verzerrungsfrei sehen zu können. Sie schränken Ihre Freiheit ein, um Platz für Produkte zu machen. Oder um Wochenendtrips mit dem Billigflieger und Flughafentransfers und Sicherheitskontrollen zu absolvieren, anstatt zu Hause zu bleiben und sich von der Arbeitswoche zu erholen – hat Ihnen das jemand befohlen? Wer?
Ein Marketing-Mann von Harley-Davidson hat einmal gesagt: »Bei Harley kaufen sie ein Lebensgefühl und bekommen noch kostenlos ein Motorrad dazu.« Als Kunde von Lifestyle-Anbietern sind Sie längst Teil der Benutzeroberfläche von Unternehmensstrategien geworden, die Sie als ihr eigentliches Produkt erfunden haben: als unablässiger Neu-Bedürfnis-Haber, dem man in immer kürzeren Zeitabständen immer mehr Neues andreht. Zum Beispiel ist Apple kaum daran interessiert, welche Krankheiten die Arbeiter bekommen, die bei Foxconn die Displays imprägnieren, über die Ihre Finger dann so geschmeidig gleiten können, dafür umso mehr daran, wie sich die Produktion von immer mehr Geräten für immer absurdere Zwecke in Ihrer Innenwelt einrichtet. In der haben sich die Prioritäten, die Aufmerksamkeiten und die Wahrnehmungen bereits so verändert, dass Sie längst schon ein digitaler Junkie geworden sind, der Entzugserscheinungen bekommt, wenn das iPhone weg ist. Selbst auf Musikfestivals bilden sich die längsten Schlangen vor den Aufladestationen für Handys; nicht auszudenken, wenn man nicht online gehen kann. Der Anblick der szenigen jungen Paare, die in szenigen Berliner Bars nebeneinandersitzen und auf die Bildschirme ihrer MacBooks starren und von Zeit zu Zeit irgendwelche Tasten auf ihren Tastaturen drücken, hat für mich etwas zutiefst Deprimierendes.
Mich verstört der leichtherzige Verzicht auf Freiheit und das freimütige Eintauschen von Autonomie gegen Produkte auch deswegen, weil hier ohne Not preisgegeben wird, was der wirkliche historische Gewinn des Aufstiegs der frühindustrialisierten Gesellschaften war. Das ist nicht primär der Wohlstand, der ja hinsichtlich seines Mehrwerts an Glück ab einem bestimmten Niveau ziemlich begrenzt ist, sondern eben das: bürgerliche Rechte, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Bildungs- und Gesundheitsversorgung. Denn die kapitalistischen Gesellschaften produzieren ja beides zugleich: die Erfahrung von Freiheit und Teilhabe und Ungleichheit und Ungerechtigkeit. Die Steigerung des individuellen Glücks und die Zerstörung der Welt. Aufklärung und Selbstentmündigung.
Deshalb greift alle grüne Kritik an der ressourcenübernutzenden Kultur und jede Forderung nach mehr Nachhaltigkeit in der Wachstumswirtschaft gleich zweimal daneben: Erstens geht es heute nicht mehr um Korrekturen, sondern um eine Umkehr, und zweitens nicht um die Frage, was es zu vermeiden, sondern was es zu erhalten gilt. Denn eines ist ja klar: Gesellschaften unseres Typs werden in den kommenden Jahren und Jahrzehnten mehr und mehr unter Stress geraten, unter Ressourcenstress, Schuldenstress, Migrationsstress usw. Unter Bedingungen von erhöhtem Stress schrumpft der Raum zum Handeln: Man beginnt dann nur noch zu reagieren und hört auf zu gestalten – so wie es die europäischen Regierungen unter dem Druck der Finanzindustrie heute schon tun. Weshalb man vor einer einfachen Wahl steht: Da sich unsere Welt radikal verändern wird, stehen wir nicht vor der Frage, ob alles bleiben soll, wie es ist, oder nicht. Wir stehen nur vor der Frage, ob sich diese Veränderung durch Gestaltung oder Zerfall vollziehen wird – ob man sehenden Auges die
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