Selbst denken: Eine Anleitung zum Widerstand (German Edition)
Aufbruch, vom Entdecken neuer Welten. Von Macht. Von der Unbegrenztheit des Möglichen. Von uns.
Bei Jungen meiner Generation ist damals eine mentale Prägung entstanden, die die Phantasie technisch aufrüstete und die Entdeckungen von Christoph Columbus und die Eroberung des Wilden Westens in Gestalt von Apollo 11 und den Astronauten Armstrong, Aldrin und Collins in der Gegenwart so fortschrieb, dass man selbst ein Teil dieser unablässigen Erweiterung des Machbarkeits- und Erwartungshorizontes wurde. Auch auf diese Weise wurde die expansive Kultur der Moderne Teil unserer mentalen Innenausstattung (bei den Mädchen sah es wahrscheinlich ein wenig anders aus, aber ein anderes Verhältnis zu Gegenwart und Zukunft hat das bei denen auch nicht bewirkt).
Eine solche Prägung erzeugt Zukunftsgewissheit: Wir betrachteten die Welt als Labor künftiger Möglichkeiten. So eine Prägung macht die Gegenwart durchlässig und immer nur momentan zur einen Version von vielen möglichen Wirklichkeiten und zu einem Noch-Nicht, das schon auf das jeweils nächste Stadium vorausweist. Diese Form der Zukunftsgewissheit hat zwei Seiten: Einerseits ist sie die exakte Übersetzung eines expansiven Kulturmodells in die Gefühls- und Innenwelt und erzeugt eine kulturelle Bindung, aus der nicht leicht zu entkommen ist. Zugleich aber verankert sie die tiefe Überzeugung, dass immer alles auch anders sein könnte. Das heißt: Die Wirklichkeit ist nicht hermetisch, sondern porös. Und solange sie porös ist, ist sie zukunftsoffen.
Wo geht’s zurück zur Zukunft?
In diesem Buch geht es darum, unseren Tunnelblick zu therapieren. Sein Titel »Selbst denken« ist natürlich ein Verweis auf das kantische Programm des »Ausgangs des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit«; dafür muss er denken, der Mensch, selbst denken. In einer Zeit, in der die gesellschaftliche Entwicklungsrichtung dem zuwiderläuft, was zukunftsfähig wäre, reicht Denken allein aber nicht aus: Es muss auch etwas getan werden, um die Richtung zu ändern. Nach mehr als zwei Jahrhunderten Aufklärung, Emanzipation und Freiheit steht Selbstaufklärung heute unter anderen Voraussetzungen als bei Kant: Sie muss sich gegen materielle, institutionelle und mentale Infrastrukturen behaupten, die sich der Erfolgsgeschichte einer Kultur verdanken, die jetzt in eine gefährliche Geschichte des Scheiterns umzuschlagen droht, weil dem System die Voraussetzungen abhandenkommen, auf die es gebaut ist.
Und die Selbstaufklärung muss sich gegen eine mediale Benutzeroberfläche durchsetzen, die so dicht gewoben ist wie nie zuvor – was bedeutet, dass es noch nie so leicht war, sich mit Wissen zu versorgen wie heute, und noch nie so schwer, sich in der scheinbaren Unterschiedslosigkeit unendlich verfügbarer Informationen zurechtzufinden. Aufklärung bedeutet heute: Gewinnung von Unterscheidungsvermögen. Und vor allem: Selbstaufklärung muss sich gegen die allgegenwärtigen konsumistischen Verführungen durchsetzen, indem sie darauf beharrt, dass es nicht schon automatisch Sinn macht, alles haben zu wollen, nur weil man alles haben kann . Konsumismus ist heute totalitär geworden und treibt die Selbstentmündigung dadurch voran, dass er die Verbraucher, also Sie, zu ihren eigentlichen Produkten macht, indem er Sie mit immer neuen Wünschen ausstattet, Wünsche, von denen Sie vor kurzem nicht einmal ahnten, dass Sie sie jemals hegen würden.
Das Buch erzählt, wie man Exits aus dem Tunnel finden kann, Notausgänge, aber eben auch schmale Ritzen, Löcher und Durchblicke, die sich zu Ausgängen erweitern und ausbauen lassen: vom Suchen also nach den Stellen, an denen man die feste Wirklichkeit perforieren kann, die uns in der vermeintlichen Massivität ihres So-Seins im Griff zu haben scheint. Wobei das nicht richtig formuliert ist: Die Signatur unserer Gegenwart ist vielmehr, dass wir uns freiwillig in den Griff dieses hochmodernen Gehäuses der Hörigkeit begeben – niemand zwingt einen dazu, obwohl alles danach aussieht, als ob jede Menge Zwänge am Werk sind: der Wettbewerb, der Zeitdruck, der Markt, das Wachstum und noch ziemlich viel mehr.
Aber es herrscht kein Krieg in Deutschland, keine Gewaltherrschaft. Es gibt kein Erdbeben, keine Überschwemmung. Kein Hurrikan bedroht unsere Existenz, und trotzdem behaupten die meisten Leute, sie hätten keine Wahl. Das ist eine ziemlich arrogante Mitteilung, wenn man das Privileg hat, in einer freien und reichen Gesellschaft zu
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