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Selbst denken: Eine Anleitung zum Widerstand (German Edition)

Selbst denken: Eine Anleitung zum Widerstand (German Edition)

Titel: Selbst denken: Eine Anleitung zum Widerstand (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harald Welzer
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wahrscheinlich hinaus, aber die Kohle wird noch ein paar hundert Jahre reichen und die sogenannten Erneuerbaren sind stark auf dem Vormarsch. Und das heißt: Der uferlose Extraktivismus, der die Erde zerstört, wird mit Sicherheit nicht durch Mangel an Energie gebremst werden.

Nicht erneuerbar. Palabora-Kupfermine, Südafrika.
    Extraktivismus: ein ungewohntes Wort, das aber ganz und gar nichts Abstraktes bezeichnet. Ihr Auto, Ihr Haus, Ihre Waschmaschine, Ihr iPhone, Ihre Kleidung, Ihre Möbel – alles besteht aus Material, das auf irgendeine Weise aus dem Boden, aus den Wäldern, aus dem Meer geholt wurde – sei es in Form von Öl, Seltenen Erden, Sand, Metall, Wasser, Holz, Baumwolle, Mineralien, was auch immer. Sie aber sehen immer nur das Ding, das Sie gekauft haben und das Ihr Leben bereichert; die Rohstoffe und die sogenannte Wertschöpfungskette, die in ihm stecken, sehen Sie in aller Regel nicht.
    Deshalb bemerken die allerwenigsten Menschen, dass sie aktive Teile einer Kultur sind, die permanent ihren Ressourcenbedarf erhöht, obwohl sie ihrem Selbstbild nach längst »grün«, »nachhaltig« oder gar »klimabewusst« ist. Parallel zum wachsenden Umweltbewusstsein, das sich in allen einschlägigen Umfragen abbildet, [9]   verläuft die Kurve des Material- und Energieverbrauchs und der Emissionen. Mit Ausnahme von 2009, dem Jahr der Weltwirtschaftskrise, war in den vergangenen Jahrzehnten jedes Jahr ein neues Rekordjahr in Sachen Energie und Emissionen, ohne dass es beispielsweise irgendeiner Zeitung einen Aufmacher wert gewesen wäre, dass der Energieverbrauch 2010 um beinahe sechs Prozent im Vergleich zum Vorjahr zugelegt hatte. Woran das liegt? Weil es in jedem Haushalt sechs Bildschirme gibt, wo früher ein Fernseher stand. Weil Sie andauernd unterwegs sind. Weil pro Haushalt mehrere Autos gefahren werden, von denen jedes größer ist als das eine , das man je Familie vor 20 Jahren hatte.
    Ein solcher Umbau der Lebenswelt vollzieht sich nahezu unbemerkt, unter anderem deswegen, weil es in unserer Kultur zu den selbstverständlichen Erwartungen zählt, dass es von allem immer mehr immer schneller immer billiger gibt. Und zum Nicht-Bemerken trägt sogar noch bei, dass ein Teil dieser Produkte, mit denen man sich die Welt vollstellt, auch noch »bio«, »fair«, »energieeffizient«, gar »nachhaltig« ist, weshalb gar nicht weiter auffällt, dass ihre schiere Vervielfältigung jeden ökologisch positiven Einspareffekt mühelos zunichtemacht. Ihren sichtbarsten Ausdruck fand die begrünte Verschwendungskultur, als Leute in der Wirtschaftskrise 2009 Geld dafür bekamen, wenn sie ihre funktionsfähigen Fahrzeuge verschrotten ließen und dafür neue kauften; diese Aufforderung zur kollektiven Ressourcenvernichtung hatte den Namen »Umweltprämie«.

Zerstörung von Sozialität
    Die Aufkündigung des Generationenvertrags ist eine historische Erstmaligkeit. Wir wissen von keiner Gesellschaft, die sich selbst außerhalb eines generationenübergreifenden Geschichtsverhältnisses verstanden hätte. Wir kennen auch keine religiösen oder ideologischen Kosmologien, die die Gegenwart zum alleinigen Bezugspunkt für Denken, Entscheiden und Handeln genommen hätte. In gewisser Weise ist die heutige universale Masse von Ich-AGs eine konsequente Fortsetzung der Emanzipation von Naturverhältnissen, wie sie die Moderne seit je antreibt: Nun lebt und stirbt jede Generation für sich allein. Verpflichtungen, die das Selbst überschreiten, laufen den Funktionsbedingungen dieser Kultur zuwider. Genau deshalb hätte der Neoliberalismus so etwas wie Familie, Freundschaft, jede Form autonomer Sozialbeziehung nie erfinden können; genau deshalb versucht er auch alles zu zerstören, was sich dem Markt nicht fügt. Umgekehrt sind nichtinstrumentelle Beziehungen von Menschen zueinander prinzipiell Widerstandsnester gegen den Konsumismus und die Totalisierung des Marktes schlechthin.
    Wenn man übrigens betrachtet, woraus totalitäre Systeme ihre Kraft bezogen haben, die Welt wenigstens für eine Weile nach ihren Vorstellungen einzurichten, dann war das zuallererst die Zerstörung von bestehenden Sozialbeziehungen: im Nationalsozialismus durch Gewalt gegen politische oder »rassische« Gegner und durch eine Politik der radikalen Ausgrenzung, die sich konkret in die Spaltung der Gesellschaft in Zugehörige und Ausgeschlossene übersetzte.
    Der Stalinismus zerstörte die Sozialität durch die willkürlich wechselnde Definition

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