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Selbst denken: Eine Anleitung zum Widerstand (German Edition)

Selbst denken: Eine Anleitung zum Widerstand (German Edition)

Titel: Selbst denken: Eine Anleitung zum Widerstand (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harald Welzer
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sozialen und physischen Umwelt, stellen evolutionär wahrscheinlich eine höchst erfolgreiche Eigenschaft von Menschen dar, die ja die anpassungsfähigsten aller Lebewesen sind. Wenn sich aber Lebens- und Überlebensbedingungen sehr langsam zum Negativen verändern, kann sich diese Geschmeidigkeit als ein erheblicher Nachteil erweisen.
    Anpassungen an veränderte Situationen können alles andere als konstruktiv ausfallen; das Unbehagen an der Dissonanz reduzieren sie allemal. Nicht nur vor diesem Hintergrund scheinen die unablässigen Aufklärungsbemühungen zu den erwartbaren Folgen des Klimawandels, zur Ressourcenübernutzung und zur Zerstörung der Welt sinnlos: Sie haben sich auch durch die Wiederholung der Argumentationsfiguren über nun vier Jahrzehnte abgenutzt und sind Teil von Normalkommunikation geworden. Man würde sich heute wundern, wenn es positive Meldungen von der Umweltnachrichtenfront gäbe; der Aufmerksamkeitswert von Nachrichten vom Typ »Arktischer Eisschild schmilzt schneller als erwartet« tendiert gegen null. Teil des Problems ist überdies die falsche Annahme, negative Argumente könnten proaktive Handlungen motivieren. Das mag im Rahmen akuter Notfallsituationen funktionieren, aber nicht dann, wenn die Benutzeroberflächen der Konsumgesellschaften noch glänzen und zu funktionieren scheinen.

Warum wir nicht so sein wollen, wie wir waren
    Wer wie ich das Glück hatte, irgendwann in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in einem kapitalistischen Land geboren worden zu sein, ist in einer Welt aufgewachsen, die von der Vorstellung beseelt ist, dass alles immer verfügbar ist und zu sein hat. Diese Welt haben die westlichen Industrienationen in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffen, einer Zeit, die von spektakulärem Wirtschaftswachstum und zugleich radikal anwachsendem Materialverbrauch und sich rapide steigernden Zerstörungen von Naturressourcen geprägt war. Ein Blick in die Statistiken zeigt, dass die ersten 200 Jahre kapitalistischer Wachstumswirtschaft noch vergleichsweise wenig angerichtet haben – erst nach dem Zweiten Weltkrieg ging es richtig los (siehe nächste Seite).

Die große Beschleunigung (nach Will Steffen u.a. 2004).
    Die folgenden Graphiken zeigen exponentielle Steigerungen in jedem Bereich, der mit unserer Lebenspraxis zu tun hat, und beziehen sich auf die frühindustrialisierte Welt, in der die Kultur des ALLES IMMER entwickelt worden ist. Jetzt verbreitet sich diese Kultur über die ganze Welt; die exponentielle Steigerungslogik wird universell.
    Es ist Unsinn, wenn gesagt wird, die Chinesen oder die Inder wollten »so sein wie wir«. Denn nicht einmal wir wollen noch so sein wie »wir«. Gemeinsam mit den Chinesen und allen anderen wollen wir an einem Kulturmodell teilhaben, das zwar im Westen erfunden wurde, das sich aber gerade dadurch auszeichnet, alle kulturellen Unterschiede radikal einzuebnen, zuerst in beschränkter räumlicher Ausdehnung, jetzt global.
    Das heutige Format dieses Kulturmodells hat mit den Selbstbildern und Erfahrungen der westeuropäischen Nachkriegsgenerationen und der Baby-Boomer wenig zu tun, wuchsen diese doch in einer Wertewelt auf, die sich um Kategorien wie Fortschritt, Aufstieg, Freiheit, Demokratie, soziale Gerechtigkeit, Bildung, Sparsamkeit zentrierte und nicht in erster Linie um die unablässige Steigerung von Konsummöglichkeiten. Eine Definition von Lebenssinn, der identisch mit der schieren Erhöhung von Konsummöglichkeiten und den dazugehörigen Slogans von »Geiz ist geil« (Saturn) bis zu »Unterm Strich zähl ich« (Postbank) gewesen wäre, hätten die meisten Bundesbürger noch in den 1980er Jahren ebenso abgelehnt wie die Bürger der DDR. Erst nach dem Mauerfall und dem Zusammenbruch des Ostblocks begann sich mit dem Wegfall der Systemkonkurrenz das Sinnangebot durchzusetzen, das in den siegreichen kapitalistischen Ländern in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg sukzessive entwickelt worden war: Sinn, so lautet dieses Angebot, kann man kaufen. Die Wirtschaft stellt ein Universum allumfassender Verfügbarkeit von Einrichtungsgegenständen, Autos, Fernreisen, Textilien usw. bereit – was immer man brauchen könnte  –, und die Konsumentinnen und Konsumenten müssen nur noch zwei Dinge tun, um Teil dieses Universums zu sein: arbeiten und kaufen.

Steigerung der Stoffentnahme.
    Die Geschichte des modernen Konsums zeichnet nach, dass es gar nicht leicht gewesen ist, dieses Modell von Sinnerfüllung

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