Selbst ist der Mensch
von Schlaf, Narkose, Funktionsstörungen des Gehirns oder den Tod unterbrochen werden.
Das Bewusstsein im Gehirn lässt sich ebenso wenig mit einem einzelnen Mechanismus, einem einzelnen Gehirnareal, Merkmal oder Trick erklären, wie eine Symphonie von einem einzigen Musiker oder einigen wenigen gespielt werden kann. Dazu sind viele notwendig. Zwar zählt jeder Einzelbeitrag, doch erst das Ensemble bringt das Produkt hervor, das wir zu erklären suchen.
6.
Zwei leicht erkennbare Leistungen des Bewusstseins sind die Verwaltung und Sicherung des Lebens: Neurologiepatienten mit Bewusstseinsstörungen können selbst dann kein unabhängiges Leben führen, wenn ihre grundlegenden Lebensfunktionen normal ablaufen. Andererseits sind Mechanismen für die Verwaltung und Aufrechterhaltung des Lebens in der biologischen Evolution nichts Neues, und sie setzen auch nicht zwangsläufig ein Bewusstsein voraus. Solche Mechanismen gibt es bereits bei Einzellern, und sie sind im Genom festgeschrieben. Außerdem vervielfältigen sie sich bereits in uralten, bescheidenen, un geistigen und un bewussten Neuronenschaltkreisen, und sie sind tief im Gehirn der Menschen verwurzelt. Wie wir noch genauer erfahren werden, sind die Verwaltung und Sicherung des Lebens die grundlegende Voraussetzung für biologischen Wert. Der biologische Wert hatte Einfluss auf die Evolution der Gehirnstrukturen und wirkt sich in jedem Gehirn auf nahezu alle Schritte seiner Tätigkeit aus. Seinen Ausdruck findet er in einfacher Form in der Ausschüttung von Molekülen, die mit Belohnung oder Bestrafung zu tun haben, oder aber auf komplizierte Weise beispielsweise in unseren zwischenmenschlichen Gefühlen und verschlungenen Überlegungen. Biologischer Wert lenkt und färbt eigentlich fast alles, was sich in unserem sehr geistvollen, sehr bewussten Gehirn abspielt. Biologischer Wert hat den Rang einer Gesetzmäßigkeit.
Kurz gesagt, erwächst der bewusste Geist aus der Geschichte der Lebenssteuerung. Die Lebenssteuerung ist ein dynamischer Prozess, der auch als Homöostase bezeichnet wird. Er beginnt bei den einzelligen Lebewesen, beispielsweise den Bakterienzellen oder einfachen Amöben, die kein Gehirn besitzen, aber zu angepasstem Verhalten in der Lage sind. Seine Fortsetzung findet er bei Individuen, deren Verhalten – wie beispielsweise bei den Würmern – von einem einfachen Gehirn gesteuert wird, und dann führt sein Weg zu Organismen, deren Gehirn sowohl Verhalten als auch Geist erzeugt (Beispiele sind hier Insekten oder Fische). Ich glaube gern, dass Lebewesen immer dann, wenn ihr Gehirn ursprüngliche Gefühle erzeugt – was in der Evolutionsgeschichte schon sehr früh der Fall gewesen sein könnte –, zu einer frühen Form von Empfindungsfähigkeit in der Lage sind. Von da an kann sich ein organisierter Prozess des Selbst entwickeln, der zum Geist hinzukommt und damit den Grundstein für einen höher entwickelten, bewussten Geist legt. Anwärter für diese Unterscheidung sind unter anderem die Reptilien und noch mehr die Vögel, den Preis bekommen jedoch die Säugetiere, und zwar vor allem ein paar ganz bestimmte.
Bei den meisten Arten, die ein Selbst hervorbringen, geschieht dies auf der Ebene des Kerns. Menschen besitzen sowohl ein Kern-Selbst als auch ein autobiografisches Selbst. Auch manche Säugetiere verfügen vermutlich über beides, so unter anderem Wölfe, unsere Menschenaffenvettern, Meeressäuger und Elefanten, Katzen und natürlich jene außergewöhnliche Spezies, die als Haushund bezeichnet wird.
7.
Der Weg des Geistes ist mit der Entstehung der modernsten Ebenen des Selbst noch nicht zu Ende. In der Evolution der Säugetiere und insbesondere der Primaten wird der Geist immer komplexer, Gedächtnis und Vernunft weiten sich beträchtlich aus, und die Selbst-Prozesse erweitern ihre Spannbreite. Das Kern-Selbst bleibt erhalten, aber es wird allmählich vom autobiografischen Selbst umgeben, das sich neuronal und mental stark vom Kern-Selbst unterscheidet. Wir erwerben die Fähigkeit, mit einem Teil unserer Geistestätigkeit die Tätigkeit anderer Teile zu überwachen. Der bewusste Geist des Menschen, der mit einem so komplexen Selbst ausgerüstet ist und darüber hinaus noch über so großartige Fähigkeiten wie Gedächtnis, Vernunft und Sprache verfügt, bringt die Instrumente der Kultur hervor und eröffnet auf den Ebenen von Gesellschaft und Kultur den Weg zu neuen Mitteln der Homöostase. In einem außergewöhnlichen Sprung
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