Selbst ist der Mensch
Kenntnisse über die Funktionsweise des Gehirns überhaupt eine Rolle für unsere Lebensführung? Nach meiner Überzeugung sind sie wichtig, und das umso mehr, wenn wir uns – nachdem wir wissen, wo wir derzeit stehen – auch darüber Gedanken machen, wohin wir uns vielleicht bewegen werden.
2. Von der Lebenssteuerung zum biologischen Wert
Die Implausibilität der Realität
Mark Twain sagte einmal, der große Unterschied zwischen Fiktion und Realität bestehe darin, dass die Fiktion glaubhaft sein müsse. Die Realität kann es sich leisten, unplausibel zu sein, die Fiktion nicht. Auch das, was ich hier über Geist und Bewusstsein berichte, entspricht nicht den Anforderungen an Fiktion. Es widerspricht der Intuition und bringt die traditionell erzählten Geschichten durcheinander. Immer wieder straft es altbewährte Annahmen und nicht wenige Erwartungen Lügen. Aber das alles macht meine Darstellung nicht weniger wahrscheinlich.
Die Vorstellung, dass sich hinter dem bewussten Geist unbewusste geistige Vorgänge verbergen, ist wahrlich nichts Neues. Mit dem gleichen Gedanken spielte man schon vor über einem Jahrhundert, und damals wurde er in der Öffentlichkeit mit großer Überraschung aufgenommen. Heute ist er ein Allgemeinplatz. Etwas anderes dagegen ist zwar ebenfalls bekannt, wird aber nicht allgemein zur Kenntnis genommen: Schon lange bevor die Lebewesen einen Geist hatten, zeigten sie effiziente, der Anpassung dienende Verhaltensweisen, und diese Verhaltensweisen ähnelten unter allen praktischen Gesichtspunkten jenen, die sich in geistbegabten, bewussten Lebewesen entwickeln. Diese Verhaltensweisen wurden zwangsläufig gerade nicht von einem Geist verursacht, von einem Bewusstsein ganz zu schweigen. Kurz gesagt, existieren bewusste und unbewusste Prozesse nicht nur nebeneinander, sondern unbewusste Prozesse, die für die Aufrechterhaltung des Lebens von großer Bedeutung sind, können sogar ohne ihre bewusste Entsprechung existieren.
Was Geist und Bewusstsein betrifft, hat die Evolution unterschiedliche Gehirne entstehen lassen. Es gibt einen Typ von Gehirnen, die Verhalten hervorbringen, offensichtlich aber weder Geist noch Bewusstsein besitzen; ein Beispiel ist das Nervensystem der Meeresschnecke Aplysia californica , die sich im Labor des Neurobiologen Eric Kandel besonderer Beliebtheit erfreute. Eine andere Form – Paradebeispiel ist das menschliche Gehirn – produziert das ganze Spektrum der Phänomene: Verhalten, Geist und Bewusstsein. Der dritte Hirntyp bringt eindeutig Verhalten hervor, erzeugt wahrscheinlich auch einen Geist, aber ob er auch Bewusstsein in dem hier erörterten Sinn entstehen lässt, ist nicht geklärt. Dies gilt zum Beispiel für Insekten.
Mit der Erkenntnis, dass ein Gehirn auch ohne Geist und Bewusstsein ganz respektable Verhaltensweisen erzeugen kann, sind die Überraschungen noch nicht zu Ende. Wie sich herausstellt, zeigen auch Lebewesen ohne jedes Gehirn bis hinab zu den Einzellern scheinbar intelligente, zielgerichtete Verhaltensweisen. Auch diese Tatsache wird nicht allgemein zur Kenntnis genommen.
In der Frage, wie das menschliche Gehirn einen bewussten Geist erzeugt, können wir zweifellos nützliche Erkenntnisse gewinnen, wenn wir die einfacheren Gehirne verstehen, die weder Geist noch Bewusstsein hervorbringen. Wenn wir aber einen Blick zurück anstellen, wird schnell etwas anderes klar: Um die Entstehung solcher frühen Gehirne zu erklären, müssen wir noch weiter in die Vergangenheit vordringen, weiter zurück in die Welt der einfachen Lebensformen ohne Geist und Gehirn, jener Lebensformen, die unbewusst, geistlos und gehirnlos sind. Wenn wir herausfinden wollen, welcher Sinn und Zweck hinter dem bewussten Gehirn steckt, müssen wir uns den Anfängen des Lebendigen nähern. Dabei stoßen wir wiederum auf Vorstellungen, die nicht nur überraschend sind, sondern die auch die allgemein üblichen Annahmen über den Beitrag von Gehirn, Geist und Bewusstsein zur Lenkung des Lebendigen untergraben.
Natürlicher Wille
Wir brauchen wieder einmal eine Fabel. Es war einmal eine Zeit, da entstand in der langwierigen Geschichte der Evolution das Leben. Das geschah vor 3,8 Milliarden Jahren, als der Urahn aller späteren Organismen auf der Bildfläche erschien. Rund zwei Milliarden Jahre später, als erfolgreiche Kolonien aus einzelnen Bakterien die Erde zu beherrschen schienen, waren Einzeller mit einem Zellkern an der Reihe. Die Bakterien waren zwar
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