Selbst ist der Mensch
anderen Bedingungen wahrgenommen als andere, beispielsweise visuelle oder akustische Bilder im Gehirn. Im Licht dieser Tatsachen stellt man sich den Körper am besten als Felsen vor, auf den das Protoselbst gebaut ist, und das Protoselbst ist seinerseits der Dreh- und Angelpunkt, um den sich der bewusste Geist dreht.
3.
Das erste, elementarste Produkt des Protoselbst sind nach meiner Hypothese die ursprünglichen Gefühle , die ständig spontan auftauchen, wenn wir wach sind. Sie sorgen für die direkte Erfahrung des eigenen, lebendigen Körpers, wortlos, schnörkellos und mit nichts anderem als der puren Existenz verknüpft. In diesen ursprünglichen Gefühlen spiegelt sich der augenblickliche Zustand des Körpers in verschiedenen Dimensionen wider, beispielsweise auf der Skala, die von der Lust bis zum Schmerz reicht; ihren Ursprung haben sie nicht in der Großhirnrinde, sondern auf der Ebene des Hirnstamms. Alle Gefühle von Emotionen sind komplexe Variationen der ursprünglichen Gefühle. 17
Nach der hier skizzierten, funktionsorientierten Anordnung sind Schmerz und Lust körperliche Vorgänge. Sie werden aber auch im Gehirn kartiert, das in keinem Augenblick von seinem Körper abgegrenzt ist. Die ursprünglichen Gefühle sind also Bilder eines besonderen Typs; sie entstehen durch die obligatorischen Wechselbeziehungen zwischen Körper und Gehirn, durch die Eigenschaften der Schaltkreise, die für die Verbindung sorgen, und möglicherweise auch durch bestimmte Eigenschaften der Neuronen. Zu sagen, dass wir Gefühle spüren, weil sie den Körper kartieren, reicht nicht. Nach meiner Hypothese steht der Apparat des Hirnstamms, der die von uns als Gefühle bezeichneten Bilder erzeugt, nicht nur in einer einzigartigen Beziehung zum Körper, sondern er kann Signale aus dem Körper auch in großem Umfang vermischen und so komplizierte Zustände mit besonderen, neuen Gefühlseigenschaften hervorbringen, die weit mehr sind als sklavisch genaue Abbilder des Körpers. Dass wir auch Bilder fühlen, die keine Gefühle sind, liegt daran, dass sie normalerweise von Gefühlen begleitet werden.
Aus dem bisher Gesagten geht hervor, dass die Vorstellung von einer scharfen Grenze zwischen Körper und Gehirn problematisch ist. Außerdem liefert es uns eine potenziell nützliche Herangehensweise an die drängende Frage, warum und wie normale Geisteszustände zwangsläufig in irgendeiner Form von Gefühlen durchtränkt sind.
4.
Der Aufbau eines bewussten Geistes im Gehirn beginnt nicht auf der Ebene der Großhirnrinde, sondern im Hirnstamm. Ursprüngliche Gefühle sind nicht nur die ersten Bilder, die das Gehirn erzeugt, sondern auch eine unmittelbare Ausdrucksform der Empfindungsfähigkeit. Als Protoselbst bilden sie die Grundlage für komplexere Ebenen des Selbst. Solche Vorstellungen widersprechen allgemein verbreiteten Ansichten; der zuvor bereits zitierte Jaak Panksepp und auch Rodolfo Llinás vertreten allerdings ähnliche Positionen. Aber der bewusste Geist, wie wir ihn kennen, ist etwas ganz anderes als der bewusste Geist, der aus dem Hirnstamm hervorgeht – in diesem Punkt herrscht wahrscheinlich allgemein Einigkeit. Die verschiedenen Teile der Großhirnrinde statten den Vorgang der Geistentstehung mit einer Fülle von Bildern aus, die, wie Hamlet es vielleicht formulieren würde, weit über das hinausgehen, was sich der arme Horatio und seine Schulweisheit träumen lassen würden.
Der bewusste Geist beginnt da, wo das Selbst zum Geist hinzukommt, wo das Gehirn der Geistesmischung einen Selbst-Prozess hinzufügt, der anfangs bescheiden, später aber sehr robust ist. Das Selbst wird in einzelnen Schritten auf dem Fundament des Protoselbst aufgebaut. Der erste Schritt ist die Erzeugung der ursprünglichen Gefühle, jener urtümlichen Daseinsempfindung, die ganz von allein aus dem Protoselbst erwächst. Als Nächstes kommt das Kern-Selbst hinzu. Das Kern-Selbst handelt von Taten – insbesondere von einer Beziehung zwischen Organismus und Objekt. Es entfaltet sich in einer Abfolge von Bildern: Diese beschreiben, wie ein Objekt das Protoselbst beschäftigt und es – einschließlich der ursprünglichen Gefühle – abwandelt. Und schließlich gibt es noch das autobiografische Selbst . Dieses Selbst definiert sich unter dem Gesichtspunkt autobiografischen Wissens, das sich sowohl auf die Vergangenheit als auch auf die vorhersehbare Zukunft bezieht. Die vielen Bilder, die in ihrer Gesamtheit eine Biografie definieren,
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