Semmlers Deal
jedem, der aufmacht, »über Jesus« unterhalten wollen; dass sie überhaupt von ihrer Privatreligion anfing, lag an den besonderen Umständen, der überstandenen Todesnähe und so weiter. Die Frau hatte heute viel durchgemacht. Zweiter Geburtstag. Da hatte sie es nicht verdient, angeschwiegen zu werden.
»Erzählen Sie«, sagte er, »wie sind Sie auf diese Theorie mit dem Universum gekommen?« Ich bin ein guter Mensch, dachte er, wenn man es genau nimmt, bin ich wirklich ein guter Mensch.
»Das ist keine Theorie«, sagte sie. »Es gibt einen Haufen Bücher darüber, finden Sie in jeder Buchhandlung, ›Wünsche ans Universum‹ und so weiter, alles Quatsch.«
»Ach tatsächlich?« Wenn sie seinen Tonfall bemerkt haben sollte, so ging sie darüber hinweg. Wahrscheinlich hatte sie keinen Sinn für Ironie.
»Was diese Leute meinen, ist einfach beten – Wünsche ans Universum – das klingt halt besser, als wenn einer sagt: ich bete zu Gott. Im Grunde dasselbe ...«
»Sie sprachen doch eben selbst vom Universum ...«
»Aber ich bete nicht! Ich opfere, das heißt, ich kündige zunächst ein Opfer an. Das ist ein großer Unterschied!«
»Inwiefern?« Die Sache begann ihn zu interessieren.
»Ganz einfach: ein Gebet ist im Prinzip eine Bitte. Man kann auch sagen: eine Bettelei. Man hat nichts und bittet Gott, das Universum, was immer Sie wollen – dass er oder es einem etwas gibt, einfach so, verstehen Sie? Bei einem Opfer dagegen ...«
»Ja, ja, das ist schon klar, da ist es ein Tausch, wie ein Handel, ›do ut des‹ ...«
»Ich gebe, damit du gibst«, übersetzte sie.
»Sie können Latein?« Das war ihm so rausgerutscht, peinlich, ohne, dass er hätte begründen können, warum die Frage arrogant und herablassend klang. Die Frau war vielleicht nicht immer Putzfrau gewesen, hatte vielleicht ein paar Klassen Gymnasium hinter sich oder sonst einen achtbaren Bildungsweg, dann, durch widrige Lebensumstände und eigene Fehler die geplante Karriere verfehlt und gerade noch so eben im sozialen Netz der Kirche aufgefangen, die sie dafür hasste und schon deshalb die offizielle Lehre ablehnte.
Er blickte sie von der Seite an. Sie hatte sich in den Sitz zurückgelehnt, den Kopf an die Stütze gelegt wie beim Versuch, während der Fahrt ein wenig Schlaf zu bekommen. Doch ihre Augen standen offen. Sie lächelte.
»Ja«, sagte sie, »ich kann Latein.«
Vorne kam ein Traktor in Sicht, den Semmler lang nicht überholen konnte. Als es endlich gelungen war, sagte er: »Weiß eigentlich der Pfarrer Moser von ihren Ansichten?«
»Natürlich nicht. Und wenn er’s wüsste, würde es ihn nicht wundern. Und es wär ihm egal ...«
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass er nicht ...«
»Hochwürden Moser hält nicht viel von Frauen im Allgemeinen und noch weniger von mir im Besonderen«, unterbrach sie ihn. Die Stimme klang nun schriller. Ihr Chef war ein wunder Punkt.
»Schikaniert er Sie?«
Sie lachte laut auf.
»Nein, nein, das tut er nicht! Selbst wenn er es wollte,könnte er ... wie soll ich sagen: ich bin nicht wert, schikaniert zu werden – aber ich sollte nicht solche Interna ausplaudern, am Ende sind Sie Journalist und schreiben einen Artikel über ... über ›Zoff im Pfarrhaus‹ – oder so ähnlich!«
»Ich bin kein Journalist.«
»Nein, natürlich nicht, das war nur ein Scherz, verzeihen Sie.«
Ihre Bemerkung hatte ihn verstimmt. Es war nicht die Unterstellung, Journalist zu sein, er pflegte keinen Dünkel in dieser Sache; die wenigen Menschen, zu denen er überhaupt ein freundschaftliches Verhältnis unterhielt, waren Journalisten. Es waren nicht ihre Worte, die ihn störten, sondern die Art, wie sie die ausgesprochen hatte – Tonfall und Duktus so falsch, so talentfrei gespielt, dass es jedem aufgefallen wäre; ein absichtlich verunglücktes Ablenkungsmanöver. Was bezweckte sie damit? Wollte sie sich über ihn lustig machen? Hielt sie ihn für so dumm, dass er es nicht merkte? Aber genau das, wonach es sich anhörte, konnte es nicht sein: wer würde seinen Lebensretter verhöhnen wollen, keine Stunde nach der Rettungstat? Vielleicht war sie ein bisschen verrückt? Oder total?
Auf dem Rest der Fahrt wurde fast nichts gesprochen; sie dirigierte ihn zu einem siebziger Jahre Wohnblock in Dornbirn. Drei Stockwerke, kürzlich renoviert, vor allem mit Farbe. Gelb, rosa, blassblau, zwischen den Gebäuden Rasen und Magnolienbäume. Niemand war zu sehen.
»Kommen Sie«, sagte sie beim Aussteigen, »ich mach
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