Semmlers Deal
1
Er hätte, dachte er viel später, einfach weiterfahren sollen. Denn alles, so dachte er, was ihm später widerfahren war, das Gute wie das Böse, kam davon, dass er angehalten hatte. Genau das hielt er für ungerecht. Nicht die Neugier hatte ihn anhalten lassen, die Sensationslust, so etwas einmal live zu sehen, was man sonst nur aus dem Fernsehen kannte. Anhalten lassen hatte ihn das reine Verlangen, zu helfen.
Weil es ging. Er war ja nicht verrückt. Wenn das Auto gleich versunken wäre – keine Idee, da noch etwas machen zu wollen. Aber es lag nicht einmal zur Hälfte im Wasser, die rechte Seite tiefer, die linke Seite höher; der Wagen stand auch. Nicht ganz, er bewegte sich vom Ufer weg, aber wirklich nur sehr langsam, und man konnte doch sehen, dass er in der wirbelnden braunen Brühe stand , auf den Rädern regulär zum Stillstand gekommen war, im kaum knietiefen Wasser auf dieser Seite – dass er aber im weiteren Verlauf nach rechts driften und in tieferes – viel tieferes! – Wasser geraten und mitgerissen würde wie die Baumstämme und allerhand Zeug, das man vom Ufer aus nicht einordnen konnte, nur sehen, dass es hinab trieb, sehr schnell, und dass es verloren war.
Sehen konnte jeder, der nicht einfach aufs Gas stieg und der Stelle auswich, wo die Straße abgebrochen war wie mürber Lebkuchen; sehen konnte jeder, dass die Frau, die am Steuer saß, dort sitzen blieb. Schreckstarre, Schock, das kalte Wasser. Sie würde ertrinken, elend, und nichts anderes.
Wer, fragte er sich oft, hätte nicht den Wagen auf die andere Seite gefahren, wäre nicht ausgestiegen, wäre nicht zur Abbruchkante gelaufen – nur einen Meter über dem Fluss? Wäre nicht hinunter gesprungen, hätte nicht die Fahrertür aufgerissen, die Frau am Arm gepackt und rausgezerrt? Wer denn nicht?
Auch wenn Koslowski nachher sagte, nicht alle hätten getan, was Semmler getan hatte. Aus Angst vor dem Wasser. Wieso Angst? Dort am Rand ging ihm das Wasser nicht einmal bis zum Knie, war auch nicht so reißend wie schon einen Meter weiter gegen die Mitte zu; die Tür ließ sich leicht öffnen, die Frau war nicht bewusstlos, nur benommen, half mit beim Aussteigen, machte zwei unsichere Schritte auf die Böschung zu, legte die Arme drauf, er, Semmler, packte ihre Beine, hob sie hoch und schob sie auf den intakten Asphalt, der war rutschig, die Dame krabbelte voran, setzte sich auf, was war ihnen passiert, ihnen beiden? Semmler hatte sich die Hosenbeine nass gemacht und die italienischen Schuhe ruiniert, also schön, die waren hinüber – hätte er die Frau ersaufen lassen sollen? Wegen der Schuhe?! Und sie wäre sitzen geblieben in ihrem japanischen Zwergauto (10.000 Euro Neupreis) und wäre untergegangen, denn als sie sich danach umdrehten, stand das Wasser schon bis zur Seitenscheibe, gurgelte draußen und drin in wilden Wirbeln, der Wagen drehte sich hin und her, als hielte er es dort nicht mehr aus, wo er zum Stehen gekommen war. Dann, ohne Vorwarnung oder irgendein Zeichen, kippte er nach rechts, streckte einen Augenblick noch die linken Räder aus dem Wasser und war verschwunden. Sie sahen ihn auch nicht mehr auftauchen, etwa Dach, Reifen oder sonst ein Teil, das Auto war weg.
»Danke, danke!«, sagte sie immer wieder, ergriff seineHand mit beiden Händen und ließ die längste Zeit nicht los, »Danke, danke!«, wie eine Beschwörung; vielleicht hatte sie die Sprache verloren und konnte nun nur noch dieses eine Wort ausstoßen, es war ihm peinlich, er hatte ihr das Leben gerettet, ja und? Jeder andere hätte ...
...daran lag es ja, was ihn so störte an der Sache. Viel später. Viel, viel später.
Wenn ihm alles, was ihm noch zustoßen sollte, zugestoßen wäre, weil er die Frau hätte ertrinken lassen – dann hätte man einen gewissen Sinn darin erkennen können. Strafe, Rache, etwas dieser Art. Aber alles, was ihm zustieß, geschah, weil er Gisela Mießgang das Leben gerettet hatte. Das war nicht gerecht.
Sie hatte die Sprache nicht verloren, begann aber am ganzen Körper zu zittern; der Schock, dachte er, das ist jetzt der Schock; er führte sie zu seinem Wagen, setzte sie auf den Beifahrersitz, stieg ein und ließ den Motor an. Er drehte die Heizung auf.
»Eine Decke habe ich leider nicht«, sagte er.
»Das macht nichts«, sagte sie, »machen Sie sich keine Umstände.« Sie vermied es, ihn anzusehen, wurde ruhiger, erinnerte sich wohl an ihr übertriebenes »Danke-Danke!«; das war ihr jetzt peinlich, ein gutes Zeichen
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