Semmlers Deal
könnten auf das Ende aller Tage.
Ein halbes Jahr wohnte er schon in der Siedlung Blumengasse. Es ging so. Was das fehlende Geld betraf, kam er gut zurecht. Das überraschte ihn selbst am meisten. Ob es auch die anderen überrascht hätte, die vielen, die er gekannt hatte, wusste er nicht, denn sie ließen sich seit ein paar Monaten nicht mehr blicken. Von allen langweiligen Sachen ist Armut die langweiligste; er verstand das. Armut traf es nicht ganz. Mit dem Verlust des Vermögens waren andere Vokabelnam Rande des Bewusstseins aufgetaucht und sehr rasch ins Zentrum gerückt: »Sozialversicherungsnovelle« und »Höchstbemessungsgrundlage« waren solche Worte. Da wurden als Ergebnis byzantinischer Berechnungen lächerliche Beträge ausbezahlt; kein richtiges Geld. Für ihn bisher an der Wahrnehmungsgrenze – für ihn waren solche Summen eine fette Null gewesen – aber natürlich war auch das richtiges Geld und keinesfalls null, es kam nur auf das Instrument an, mit dem man es betrachtete. Es war wie das Eintauchen vom Makro- in den Mikrokosmos. Mit einem Mal war es wichtig, was die Dinge kosteten; nicht die Dinge des Handels, die man weiterverkaufte, sondern die Dinge des Lebens, die man verbrauchen musste. Wie viel bezahlte man für ein Viertel Butter, für einen Laib Brot, für zehn Deka Lyoner Wurst? Das war nun wichtig. Und mit diesem »mikroskopischen« Geld kam er nun auch in Berührung. Er brachte es nicht über sich, eine Rechnung von dreizehn achtzig mit der Bankomatkarte zu bezahlen, das war zu lächerlich; er zahlte bar und hantierte mit Scheinen, auf denen eine Fünf aufgedruckt war oder eine Zehn, mit Münzen, die Prägungen aus allen Ländern Europas zeigten. Wie im Mittelalter. Er hatte seit der Studentenzeit nichts mehr mit realem Geld zu tun gehabt; Geld hatte er nur als Ziffern auf dem Computerschirm gesehen oder in Form großer Scheine, die wiederum die armen Leute nie zu Gesicht bekamen. An manchen Tankstellen war ein Fünfhunderter auf einem Schild abgebildet, dabei der Hinweis, dass man außerstande sei, ihn zu wechseln; das hatte ihn amüsiert, jetzt erfüllte es ihn mit Bitterkeit. Arm zu sein, war anstrengend. Die Befriedigung, das arme Leben doch zu meistern, stand in keinem Verhältnis zu den Beschwerlichkeiten, die es mitsich brachte. Ein Marathonlauf war ein Honiglecken dagegen. Und arm war nicht das rechte Wort. Oder doch das rechte Wort; er schwankte von einem Tag auf den anderen in der Beurteilung der Lage. Richtig arm waren die Leute im Sudan oder so – waren dann Menschen, die im Interspar dreizehn achtzig mit der Karte bezahlten, etwa reich? Oder doch arm, aber nicht richtig arm? Ein Hinweis konnte sein, dass von all den Leuten, die er von früher kannte, die sich aber selber nie als reich bezeichnet hätten, niemand jemals im Interspar auftauchte. Die kauften dort nicht ein, die ließen einkaufen, wie er selbst es auch getan hatte. Nach den ersten Wochen verlor er die Angst vor peinlichen Begegnungen an der Wursttheke.
Am Ende des Abstiegs, als die Kurve wieder flach wurde, befand sich auf dem einzigen noch verbliebenen Konto Semmlers bei der Dornbirner Sparkasse eine gewisse Summe; von diesem Geld lebten sie. Nein, nicht ganz richtig: Von diesem Geld bezahlten sie Miete und Betriebskosten, leben taten sie von dem, was Ursula als Sekretärin verdiente, sie war – unglaubliches Glück – in ihren alten Beruf zurückgekehrt. Bei Christoph Wurtz. Der Anwalt hatte nach dem Zusammenbruch der SILIV AG eine Kanzlei gegründet und als Wirtschaftsanwalt Erfolge verzeichnet, die ihm niemand zugetraut hätte. Ursula arbeitete bei ihm als Sekretärin, sie war einfach hingegangen und hatte sich beworben. Semmler hatte sie nichts davon erzählt. Und Semmler hatte, mit der vollendeten Tatsache konfrontiert, nichts dazu gesagt.
Semmler verrührte den Zucker im Kaffee; seit ein paar Monaten trank er ihn süß; Ursula schätzte das nicht, er habe auch zugenommen, sagte sie und seufzte dabei. Ganz leise, er hörte es dennoch. In dem, wie sie es sagte und dazuseufzte, schwang Resignation, was ihm nicht gefiel; er äußerte sich dazu nicht, um keinen Streit vom Zaun zu brechen. Das war nämlich eine Gefahr des Verarmens, dass man leichter zu streiten anfing. Wenn er die Sache unvoreingenommen betrachtete, musste er allerdings zugeben, dass es nicht an ihm lag. Seltsamerweise schien Ursula den Umschwung schlechter zu verkraften als er selbst; er hatte lang darüber nachgedacht, woran das lag.
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