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Semmlers Deal

Semmlers Deal

Titel: Semmlers Deal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Mähr
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und ab. Sehr langsam. Aber er erkannte sie nicht. So habe ich sie noch nie gesehen, dachte er, aus dieser Perspektive, wir hätten einen Spiegel aufstellen müssen, dachte er, aber daran liegt es nicht allein. Sondern – fangen wir vielleicht oben an, einverstanden? – zum Beispiel am Haar, eine lange Mähne wie bei Ursula, aber eben brünett, kein Goldhelm, das stimmt ganz und gar nicht, sollen wir also annehmen, sie hat sich die Haare färben lassen an diesem einen verfluchten Nachmittag? Weiter nach unten schweifend mit forschendem Blick bemerken wir einen schlankeren Rücken als den von Ursula gewohnten und endlich auf der linken Hinterbacke einen halbwegs runden, schwarzen Fleck von Handtellergröße, im schwachen Nachttischlämpchenlicht und durch die Scheibe nicht zu erkennen, aber wohl mit hoher Trefferwahrscheinlichkeit als Tätowierung anzusprechen, eine Rose. Ziemlichsicher eine Rose. Das wär dir doch aufgefallen, alter Freund, sagte die Stimme im Kopf (geraume Zeit sprach sie schon wieder zu ihm), wenn deine Frau eine Rose auf den Arsch tätowiert hätte, so geistesabwesend kannst du nicht sein – wenn das also Ursula sein soll, hat sie nicht nur abgenommen und sich die Haare gefärbt, sondern sich auch tätowieren lassen, alles in ein paar Stunden seit dem Essen mit Wurtz in diesem Lokal; denn dort war sie ja noch blond gewesen, oder nicht? He, hörst du überhaupt zu?
    Semmler antwortete nicht. Das Herz schlug bis in den Hals. Die Sache war peinlich. Er stand auf. Peinlich war eine Untertreibung. Er musste weg hier. Schnell.
    Er stürzte ab.
     
    D ie Ärzte sagten, er habe unheimliches Glück gehabt, die Chance, einen Sturz aus dem fünften Stock zu überleben, sei so gering, dass ... er hörte ihnen nie richtig zu, das Gerede verging wie alles andere Gerede aller anderen Menschen, die ihn umgaben, im Dämmerdasein seiner Schmerzmittelexistenz, denn »Glück gehabt«, das muss man wohl zugeben, ist ein relativer Begriff; das rechte Bein zerschmettert vom Knie bis zum Hüftknochen, Operationen, Liegen, Schmerzen, Schmerzmittel, langsame Heilung. »Heilung« erfuhr er, war ebenso relativ wie »Glück gehabt«; die Sprache der Mediziner strotzte vor solchen Relativitäten, die Hüfte musste versteift werden, er konnte aber gehen. Mit einer Krücke. Und die Hüfte tat oft weh, was heißt Hüfte, das ganze Bein tat weh. Bei Wetterwechsel. Oder bei Tiefdruckwetter ohne Wechsel. Am besten ging es noch bei stabilen Hochdrucklagen im Sommer. Aber Semmler zeigte große Geduld. DieÄrzte wunderten sich, Dr. Rösch, der ihn viermal operiert hatte, meinte sogar Ursula gegenüber, er könne sich in seiner mehr als zwanzigjährigen Praxis als orthopädischer Chirurg an keinen anderen Patienten mit so ausgeprägter Leidensfähigkeit erinnern.
    In diesen Monaten besuchte ihn Ursula jeden Tag im Krankenhaus Dornbirn, dann zwei-, dreimal die Woche im Rehazentrum im Montafon, wo er wieder laufen lernte. Eines Tages erzählte ihm Ursula alles. Er dachte jedenfalls, dass das alles war, was sie ihm von sich aus erzählen würde; Wurtz habe sie »umgarnt«, gab sie zu, Komplimente gemacht, ausgeführt, bei der täglichen Arbeit ihre Meinung eingeholt. Und sie? Wie sie darauf reagiert habe, das wolle er doch sicher wissen, sagte sie, das könne sie sich vorstellen, wie neugierig er auf diesen Punkt sei. (Er war es nicht.) Nun, sie gebe zu, ihn nicht von Anfang an zurückgewiesen zu haben, das hätte sie nämlich tun sollen, keine Frage, aber sie sei ungeheuer geschmeichelt gewesen, diesen Ausdruck verwendete sie oft in ihrer leise gemurmelten Apologie, während sie an seinem Bett saß und seine Hand streichelte, »ungeheuer geschmeichelt«. Denn daheim, und das sei ja schließlich auch wahr, was habe denn daheim auf sie gewartet? Ein depressiver Ehemann, machen wir uns doch nichts vor, wenn sie schon rückhaltlos die Wahrheit berichten solle (das hatte niemand von ihr verlangt), dann müsse doch, bitteschön, auch die andere Seite zur Sprache kommen ... die andere Seite, das war er, der nun mit kaputten Knochen in einem weißen Bett lag und versuchte, aus ihrem leisen, fast wispernden Sermon schlau zu werden, alles drang wie durch einen Wattebausch ins analgetikagedämpfte Bewusstsein; nicht, das er nicht verstanden hätte, was sie sagte.
    Akustisch bekam er jedes Wort mit, nur nicht emotional. Es war so unsäglich langweilig. Gut, er war depressiv gewesen und keine anziehende Persönlichkeit, das war ja klar; ihre

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