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Semmlers Deal

Semmlers Deal

Titel: Semmlers Deal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Mähr
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Rückseite des Pyramidenhauses verstellte. Dann lag das Haus vor ihm. Licht im ersten und zweiten Stock. Darüber nichts. Dunkel im dritten, vierten und fünften. Er fühlte sich schwach, sank in sich zusammen, saß endlich auf den Unterschenkeln. Was wusste er jetzt? Genau so viel wie vorher. Sie konnten nicht da sein. Oder siekonnten da sein. Wenn sie da wären, wenn er sicher wüsste, dass sie da wären, hätte er Gewissheit.
    Lag es an der neuen Armut, dass er bis jetzt so eigentümlich ruhig geblieben war? Er dachte darüber nach. Er hatte erst zweimal geschrien, war das etwa normal? Wenn ihm eine parteiische Erinnerung keinen Streich spielte, war Ursula die erste Frau, die ihn verließ; alle vor ihr hatte er verlassen. Bei dieser neuen, den Existenzgrund auflösenden Erfahrung sollte man doch ein bisschen mehr Reaktion erwarten als den mickrigen Allerweltsfluch »Scheiße«, oder nicht? »Scheiße« sagt man, wenn man in der Innenstadt keinen Parkplatz findet. Als Reaktion auf das Fremdgehen der Ehefrau ist es dürftig. Das Sein bestimmt das Bewusstsein, und als armer Schlucker konnte man nicht so aufdrehen wie als Millionär ... lag es daran? Nein, Quatsch. Er war relativ ruhig, weil noch relativ wenig passiert war und nichts Gravierendes mehr passieren würde. Das wusste er.
    Denn es stand ja in seiner Macht, alles zu wenden. Er hatte das schon vier Mal getan. Er hatte einen verlorenen Schlüssel wieder bekommen, einen Riesenreibach gemacht, eine wunderbare Frau gewonnen, sie zurückgewonnen, als sie in Gefahr war. Alles durch wohlüberlegte Opfer zur richtigen Zeit. An die richtige Stelle. Hingegeben hatte er ein goldenes Feuerzeug, ein Auto, ein Haus, sein ganzes Vermögen. Man konnte nicht bestreiten, dass der Wert der Opfer exponentiell angestiegen war. Aber lag das an jener oberen Instanz, die seine Opfer annahm? Es lag doch nur am Wert der Gegenleistung, die er gefordert und erhalten hatte. Der Wert entsprach dem Gegenwert, die Grundregel jeder funktionierenden Ökonomie war eingehalten; deshalb lief der Deal ja auch – und lief immer weiter, das zweite, das dritteMal und so fort – weil beide Seiten bekamen, was sie erwartet hatten. Es war in einem substanziellen Sinne fair.
    Was konnte er jetzt noch opfern? Ursula war sein Leben. Der Satz klang übertrieben, verschwitzt pubertär. Aber es war so. Er konnte sich nicht einmal vorstellen, ohne Ursula zu leben. Aber es ging nicht um Ursulas Leben; da hätte er ein Leben für das andere setzen müssen, und welches? Sein eigenes. Das war Blödsinn, denn wenn er tot war, konnte er kein gemeinsames Leben mit Ursula führen, das Geschäftsziel wäre verfehlt, einen Deal dieser Art brauchte er nicht anzubieten. Mit dem eigenen Leben hatte es gleichwohl doch zu tun, was ihm als Opfer blieb, war der eigene Körper, es nutzte nichts, der musste dran. Große Ruhe überkam ihn. Er schämte sich jetzt, dass er vorhin laut »Scheiße« gerufen hatte. Wäre nicht nötig gewesen. Er kniete in der reifbedeckten Wiese, die Nässe kroch durch den Hosenstoff. Er breitete die Arme aus und sagte mit lauter Stimme: »Ich opfere meine Gesundheit für die Rückkehr Ursulas.«
    Er stand auf. Ich bin verrückt, dachte er. Wer macht so etwas? Die Gesundheit ist das höchste Gut! Ohne Gesundheit ist alles nichts ... oder wie ging das? Nein: Die Gesundheit ist nicht alles, aber ohne Gesundheit ist alles nichts. Aber die Menschen, die sich diese biederen Sinnsprüche ausgedacht hatten, kannten Ursula nicht. Er hatte keine Wahl. Wenn er der tiefen und festen Überzeugung wäre, dass ihm diese Frau auf immer verloren war, würde er sich in derselben Stunde umbringen. Ja, das würde er. Klang bescheuert, wenn man es laut aussprach. Es klang sogar im eigenen Kopf bescheuert, wenn er es nur dachte, aber es entsprach der schlichten Wahrheit. Er konnte ein Leben mit all den Qualen, die Ursulas Fehlen auslösen würde, nicht ertragen;der Selbstmord wäre dann die logische, vernünftige und einzig mögliche Reaktion. Die Stimme in seinem Kopf blieb stumm. Obwohl er sie noch vor fünf Minuten so laut gehört hatte wie die eines Menschen, der einen Schritt entfernt stand, schwand die Erinnerung, er hörte sie von Minute zu Minute weniger deutlich, wusste noch, was sie Hässliches gesagt, aber nicht mehr, wie das geklungen hatte.
    Danach ging er spazieren. Durch Straßen und Gassen der Außenbezirke Dornbirns, die eigentlich Dörfer waren; er durchwanderte die ehemaligen Ortskerne, ging an den

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