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Sensenmann

Sensenmann

Titel: Sensenmann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clausia Puhlfürst
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Nachrichten und dann das Abendbrot.
     
    »Einzelhaft, Schläge, Vergewaltigungen. In einem Heim auf der Kanalinsel Jersey wurden Waisenkinder über Jahre hinweg systematisch
gequält. Nach ersten Vermutungen soll es sogar Tötungen gegeben haben.« Die Fernsehkamera schwenkte langsam von dem hellen Mittelgebäude über ein davor aufgebautes weißes Zelt zu einem der beiden spitzgiebeligen Seitenteile und glitt dann von oben nach unten über die braunroten Natursteine und die in viele Fächer geteilten Fenster.
    Matthias Hase legte die Fernbedienung wieder zurück auf den kleinen Beistelltisch und beugte sich nach vorn, als habe er Witterung aufgenommen.
    »Alles fing damit an, dass der Keller des heute als Jugendherberge genutzten Hauses marode war und modernisiert werden sollte.« Jetzt kam die Reporterin ins Bild. Sie hielt ein zottiges Mikrofon in der Rechten. Ihre blonden Haare wurden vom Wind zerzaust. Mit der linken Hand zeigte sie auf das altertümliche Gebäude im Hintergrund.
    »Bei diesen Sanierungsarbeiten wurden erste Knochenteile entdeckt. Die hinzugezogene Polizei suchte den Keller des viktorianischen Gebäudes daraufhin mit Spürhunden ab …«, die Reporterin machte eine dramatische Pause, »… und wurde fündig.« Das Bild zweier Männer in den typischen weißen Anzügen der Spurensicherung wurde eingeblendet. Sie hockten auf dem Boden, umgeben von gelben Tüten, und kratzten im Beton.
    Matthias Hase versuchte zu schlucken, aber sein Mund war eine Wüste. Er konnte den Blick nicht vom Bildschirm abwenden.
    »Die auf Leichengeruch spezialisierten Hunde schlugen über einer massiven Betonschicht an. Darunter fand man den Schädel eines Kindes, das vermutlich in den achtziger Jahren starb. Dicht daneben wurden Stoffreste, ein Knopf und eine Haarspange entdeckt. Die Fundstücke sind mittlerweile zu forensischen Untersuchungen aufs britische Festland gebracht worden. Die Polizei sucht inzwischen mit Spezialausrüstung nach weiteren Leichen; vor allem in einem zugemauerten Kellerraum; denn hier, im
Keller, so berichten ehemalige Insassen, wurden die Kinder bei schlechtem Betragen eingesperrt.«
    Das Foto der Spurensicherer verschwand und wurde durch eine Grafik der Räume ersetzt. Von oben konnte man sehen, dass die Gebäudeteile zu einem Rechteck mit Innenhof angeordnet waren. Das helle Frontgebäude, vor dem das weiße Zelt stand, schien nachträglich zwischen die langen Seitenflügel eingefügt worden zu sein. Der rückwärtige Trakt war breiter. An der linken oberen Ecke stand das Wort skull . Matthias musste nicht auf die erklärende Stimme der blonden Reporterin warten, um zu wissen, was das hieß. Dort war also der Schädel gefunden worden.
    Vor der rechten Längsfront  – er konnte nicht verhindern, dass in seinem Kopf jemand die Anzahl der Fenster zählte  – waren zwei kleinere, halbrunde weiß-blaue Aufblaszelte und das Wort cellar eingezeichnet. Cellar hieß Keller. Matthias Hase hatte in Englisch immer gut aufgepasst. Sein Mund war noch immer trocken, und er sehnte sich nach etwas zu trinken, konnte aber jetzt nicht aufstehen. Zuerst musste er diesen Bericht bis zum Schluss ansehen.
    »Auch außerhalb des Gebäudes werden mit den Hunden sechs hot spots untersucht, an denen Leichenteile vermutet werden.« Hinter dem linken Seitenflügel zeigten zwei Pfeile auf das Wort pits   – Gruben.
    »Der Leiter der Suchaktion, Jerseys stellvertretender Polizeichef Sam Lowell, bestätigte, dass die Polizei mit Listen mit den Namen vermisster Kinder arbeitet.« Die Grafik verschwand und die Reporterin erschien wieder im Bild. Der Wind wehte jetzt offenbar stärker, denn Matthias hatte das Gefühl, sie müsse sich regelrecht dagegenstemmen.
    »Die mutmaßlichen Morde an den Heimkindern sollen in der Zeit von 1960 bis zum Jahr 1986, als das Kinderheim geschlossen wurde, geschehen sein. Die Ermittler gehen überdies davon aus, dass außer Tötungen hier auch zahlreiche andere Straftaten
stattgefunden haben. Heimkinder wurden sexuell missbraucht, gequält, eingesperrt, geschlagen.« In Matthias’ Kopf bildeten die Worte der Reporterin einen Strudel, der immer schneller kreiselte und alle klaren Gedanken zu verschlingen drohte.
    »Bereits vor fünf Jahren hatte man hier bei Bauarbeiten Knochen gefunden. Diese wurden jedoch für Tierknochen gehalten  – obwohl man sie in unmittelbarer Nähe zu Kinderschuhen gefunden hatte. Angesichts der sich anbahnenden Morduntersuchung versucht die Polizei

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