Sensenmann
Mandy, mit diesem Versprechen möchte ich meinen Brief beenden. Ich werde ihn an einem sicheren Ort verwahren, bis es an der Zeit ist, ihn abzuschicken.
In Gedanken bin ich immer bei Dir, meine Kleine. Ich bin mir sicher, Du spürst das.
Bis bald.
Ich liebe Dich.
Dein Matthias
3
Lara Birkenfeld wischte sich mit dem nackten Unterarm über die Stirn. Die Redaktionsräume glichen einer Sauna. Seit Tagen lag eine glühende Hitze über der Stadt, die den Aufenthalt in den Büros schon vormittags unerträglich machte. In ihrem Kopf verwoben sich das hämmernde Geräusch der Tastaturen, das unverständliche Murmeln an den Telefonen und das Rattern des Faxgerätes zu einer Kakophonie des Schmerzes.
Sie stand auf, um eines der Fenster zu öffnen, und lehnte sich einen Augenblick hinaus. Die Sonne brannte ihr entgegen. Hinter Lara kicherte Isabell ihr albernes Kleinmädchenlachen. Wie eine heiße Wand aus zähem Honig stand die Luft vor dem Gebäude. Lara schloss das Fenster wieder und seufzte. Wenn sie jetzt noch einen Kaffee trank, würde ihr Kopf wahrscheinlich wie ein überdehnter Luftballon platzen. Die Klimaanlage brachte
auch nichts. Es zog höchstens an allen Ecken und Enden, und am nächsten Tag waren garantiert drei Leute heiser.
Lara setzte sich auf ihren Drehstuhl, starrte auf den Bildschirm und dachte an ihren Urlaub und dass sie es noch immer nicht geschafft hatte, sich für ein Reiseziel zu entscheiden. Am Ende würde es wieder irgend so eine Last-Minute-Reise werden, an die sie sich im Nachhinein gar nicht mehr richtig entsinnen konnte.
Ihr gegenüber zuckte Tom plötzlich unmerklich zusammen. Sein Blick huschte hin und her, danach beugte er sich nach vorn und schob seinen Kopf dichter an den Monitor. Lara kannte die Anzeichen. Eine interessante Meldung war hereingekommen, und Tom wollte der Erste sein, der sie las, um den Artikel an sich reißen zu können. Es konnte eigentlich nur eine unerwartete Agenturnachricht oder ein Computerfax von der Polizei sein. Ohne den Oberkörper zu bewegen, drückte Lara leise ein paar Tasten und hatte die Nachricht auf dem Bildschirm.
Leichenfund in Abbruchhaus. Todesursache unbekannt.
Lara konnte Tom schnaufen hören, während sie den kurzen Text überflog. Vier Bauarbeiter hatten in einem leerstehenden Plattenbaublock, der diese Woche abgerissen werden sollte, eine verweste Männerleiche gefunden. Allerdings würde man die Obduktion abwarten müssen, um festzustellen, ob es sich um ein Tötungsdelikt, einen Unfall oder Selbstmord handelte.
Vor Laras innerem Auge tauchte das Plattenbaugebiet im Südwesten der Stadt auf. Ein Viertel, in dem vor der Wende zehntausende Menschen gewohnt hatten. Jetzt waren viele Wohnungen verwaist, und es hatte ein Prozess begonnen, den man »Rückbau Ost« nannte.
Tom schnaufte jetzt leiser. Seine Nasenspitze zuckte so wie immer, wenn er Witterung aufgenommen hatte, wenn er die Möglichkeit
sah, einen Vorteil für sich herauszuschinden. Wahrscheinlich wappnete er sich schon mit Argumenten, warum er und nicht seine Kollegin Lara Birkenfeld über diesen Fall berichten müsste. Dabei war das gar nicht sein Ressort. Aber das hatte Tom noch nie interessiert.
Das Pochen in Laras Kopf verstärkte sich. Wenn die Tagespresse ihre Leser über die »Plattenbauleiche« informierte, dann war das ihre Aufgabe. Jetzt hatte sie dem Fall schon einen Namen verpasst. »Plattenbauleiche« – das klang seltsam pedantisch, so als wäre der Tote nie ein lebendiger Mensch mit Wünschen und Träumen gewesen.
Tom lehnte sich zurück, bemerkte, dass seine Kollegin ihn beobachtete, setzte ein schnelles Grinsen auf und ging sofort zum Angriff über. »Du siehst geschafft aus!«
»Findest du? Mir fehlt nichts.« Lara hatte keine Lust, mit ihm über die Hitze oder ihre Kopfschmerzen zu diskutieren und das geheuchelte Mitleid zu ertragen, das sich in Schadenfreude verwandelte, sobald sie ihm den Rücken kehrte.
»Hast du heute noch Außentermine?« Tom deutete mit dem Kinn in Richtung Fenster.
»Bis jetzt noch nicht. Warten wir die Redaktionskonferenz ab. Und du?«
»Ich muss nachher zur Neueröffnung des Mehrgenerationenhauses in Grünau. Ein paar städtische Prominente habe ich im Vorfeld schon interviewt. Daraus machen wir morgen ein Meinungsbild.«
»Ach ja. Wie schön.« Lara griff nach ihrer Wasserflasche, während sie beschloss, so bald wie möglich Kriminalobermeister Schädlich anzurufen und ihn ein bisschen wegen der Plattenbauleiche
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