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September. Fata Morgana

Titel: September. Fata Morgana Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Lehr
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um Amanda trauern muss dass ich durch das
    Verpanzerungsgefühl
    sie sei bei einer Katastrophe ums Leben gekommen die sich bereits etliche Jahre vor Sabrinas Tod ereignet habe
    hindurch muss zu dem ganzen Ausmaß des
    simultanen doppelten Verlusts
    ich hätte vielleicht nicht mit Seymour zu Abend essen sollen obwohl mein Transatlantikflug von Frankfurt nach New York City ging mit zweiStunden Aufenthalt wäre ich gleich nach Boston weitergekommen aber ich hatte es doch auch gewollt ich wechsle jeden Monat eine E-Mail mit Seymour und brauche mich meines Bedürfnisses ihn zu treffen nicht zu schämen auch wenn Amanda in seinem Leben (reziprokes emotionales Koordinatensystem) wohl später verunglückte als meine Tochter
    Seymour (schwarzes kurzärmeliges Hemd graue Hose gut rasiert und gepflegt aber blässer dünner als früher vielleicht auch wieder gesünder) holte mich an der Penn Station ab wir wechselten einige Floskeln und gingen hinaus der dröhnende Sommerabend im Garment District überfiel uns die Vertikalen der Sixth Avenue schienen im ersten Augenblick wie gerade fallende Mikadostäbe vom Lot abzuweichen und sich zu kreuzen unheimlich und doch vertraut war mir das fast als kehrte Gulliver ins Land der Riesen zurück
    WAIT
    FOR
    WALK
    SIGNAL
    mein schlechtes Gewissen wurde betäubt durch das gemeinsame rasche Vorangehen es konnte nur Luisa sein vor der ich mich schämte wo hatte ich einmal etwas gelesen was damit zusammenhing bei Walter Benjamin fiel mir ein es war eine Meditation über die toten Frauen der Geschichte deren Reize und Schönheit wir niemals erfahren haben und erfahren werden war ich nicht deshalb oder auf ähnlichem Wege auf mein Projekt Goethe lieben gekommen
    an Bord eines veralteten Flugzeugs irgendwo über Connecticut kann ich mir auch die Einsamkeit die Angst und schließlich die
    (unangebrachte) Wut auf Luisa
    eingestehen die mich vergangene Nacht Amanda wieder begehren ließen selbst jetzt noch mit offenen Augen durch das Bordfenster in die stahlblaue Luft starrend kann ich kurze erregende Zwischenbilder erzeugen es ist eine Art hastigen erotischen Rückblätterns in meinem Leben dieses Mal aber zu den (wenigen) Frauen vor Amanda zu einigen
    daguerreotypisierten Miniaturen
    meiner ehemaligen körperlichen Leidenschaft
    wie geht es dir WIRKLICH fragte mich Seymour gestern vor Macy’s
    THE WORLD’S LARGEST STORE
    und fast hätte ich ihm von meiner dummen Berliner Affäre im Frühjahr 2003 erzählt diese animalische glücklose Ausflucht mit der Krankenschwester die mir Luisa zunächst leichthin verziehen zu haben schien (aber wie hätte sie es denn so rasch bewältigen können) der Jetlag wirkte fast wie ein Rausch diese absurd erscheinende Müdigkeit am frühen Abend der reine Alkohol verdrehter Zeit stieg mir zu Kopf und machte mich immer offener und leutseliger anlehnungsbedürftig infolge eines interkontinentalen Schwindelgefühls (im Grunde mein Zustand seit dreißig Jahren) ich wollte mich trotz Seymours Angebot nicht ausruhen sondern gleich auf die Ortszeit umstellen wir konnten uns frei bewegen weil ich meinen Koffer in einem Schließfach an der Penn Station untergebracht hatte und nur einen Daypack mit dem Nötigsten für eine Übernachtung trug
    die Anlage ist viel schöner heutzutage aber sonst ist es wie in den Siebzigern
    meinte Seymour als wir uns an einen grün lackierten Metalltisch im Bryant Park setzten fast hätte ich widersprochen weil ich in meinem Zustand (es war etwa ein Uhr morgens und die Julisonne schien noch kräftig durch die Baumblätter über uns und auf die Front der Public Library) annahm die Siebziger seien jene Zeit gewesen in der Seymour und ich uns so oft hier gesehen hatten
    eine prekäre Wirtschaftslage und der Krieg fuhr Seymour fort damals gab es hier vor allem Drogendealer und Junkies jetzt haben wir jeden Mittag einen großen Lunch von sauberen Touristen und sauberen Geschäftsleuten nur der Krieg wird allmählich so dreckig wie der in Vietnam ich muss dir (aber mehr noch Luisa) Abbitte leisten weil mich die Drohungen mit den irakischen Massenvernichtungswaffen und Al-Qaida-Verbindungen doch beeindruckt hatten es ist furchtbar und was mich besonders wahnsinnig macht ist dass uns nun die gleichen Leute die vor 9/11 die Gefahr eines großen Terroranschlags heruntergespielt haben mit der gleichen Chuzpe versichern sie hätten die Entwicklung im Irak im Griff was sagst du
    dasselbe (sagte ich) ziemlich erstaunt über die Entwicklung

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