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September. Fata Morgana

Titel: September. Fata Morgana Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Lehr
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dafür konnte glücklich weiterleben zu müssen) meine Mutter meine Schwester Caroline und ihre jüngere Tochter Lotta Sabrinas Lieblingscousine alle aus Berlin angereist ich
    habe den fassungslosen Blick meiner Mutter vor mir
    nicht an Ground Zero sondern in der völlig unversehrten bombastischen Schlucht der Fifth Avenue der großen Schneise ins immer nächste Jahrhundert diesem Glas- und Stahl-Traum der urbanen Hyperpotenz mit seiner ungebrochenen Metropolis-Energie und titanischen Banalität
    wie konntest du nur meine Enkelin hierher bringen
    schien
    ihr Blick zu sagen aber sie sagte doch gar nichts sie fand nur keinen Anker keine Verbindung zu Sabrina (ich liebe die deutsche Oma nicht so sehr wie meine Oma Cynthia ich kann aber nichts dafür Daddy das macht einfach mein Körper) in der doch weitgehend intakten perfekt funktionierenden riesigen Stadt meine Mutter war zweiundsiebzig und kannte von den Staaten nur Boston und ein wenig von der Nordostküsteund Amherst natürlich in seiner Pioneer-Valley-Idylle sie suchte einen Anker etwas das sie begreifen ließ was mich mit dieser urbanen Mega-Maschine verband weshalb ich Sabrina hierher gebracht hatte wie ich sie hier hatte zeugen können
    fast hätte ich gesagt
    aber sie ist doch Amerikanerin
    meine Mutter hatte mit vierzehn Jahren den Feuersturm in Hamburg überlebt ich glaube sie kam auch mit der Unversehrtheit der ungebrochenen ja eher verstärkten Vitalität von New York City nicht zurecht es zeigte ihr nur die Absurdität um so mehr auf es war die augenfällige Verkehrung des achselzuckenden
    Wrong-time-wrong-place
    das wir immer wieder von den Right-time-right-place-Leuten zu hören bekommen durchaus
    mitfühlend
    es war eben kein Krieg sondern nur tausendfacher Mord mit eben jener gesteigerten Absurdität dass für Einzelne
    Tausende
    mitten im vermeintlichen Frieden der Terror ausbricht
    meine Mutter musste Ground Zero sehen sie brauchte den Anblick der Teddybären der Kinderzeichnungen der Briefe der Blumen und Puppen diese schutzlose unprofessionelle verzweifelt auf Betonblöcken wie auf improvisierten Altären in ärmsten Entwicklungsländern ausgebreitete Privatheit um schließlich den Anker zu finden und die Wirklichkeit die tatsächliche Ermordung ihrer Enkelin und ihrer Schwiegertochter eben das was sie dann mit Amandas Eltern und den Studenten aus Amherst verband mit denen sie nach der Trauerfeier an einem Tisch saß sie hatte Amanda bewundert das fiel mir erst jetzt wieder ein als jähe Vertiefung meiner Schuld denn wer weiß an welchem richtigen Ort Amanda sich aufgehalten hätte wären wir nicht geschieden worden
    es gibt keinen richtigen Ort
    aber es gibt so viele bessere
    meine Schwester und Lotta blieben noch einige Tage sie wollten nach Amherst und Luisa fuhr mit ihnen weil ich es nicht ertrug (nicht ertragen zu können glaubte) sie waren auch sehr deutsch mit ihren
    Anti-Kriegs-Reflexen
    wie Seymour es nannte (ich erinnerte ihn nicht an Rotterdam und die gerade noch gelungene Flucht seiner Eltern vor der Wehrmacht und der SS) weil sie weder die Bomben auf Tora Bora noch die Drohgesten der US-Administration in Richtung Irak guthießen wie im Übrigen die meisten New Yorker auch
    mich trösteten die Bomben nicht im Geringsten ich wollte nur eine erbarmungslose (nein: effektive) Verbrecherjagd das schon
    und etwas das dem
    PRÄSIDENTEN
    scheinbar ferner lag als der Mond auf dem seine Nation doch gelandet war
    schamerfülltes skeptisches Nachdenken (deutscher Reflex seit 1945 oder besser seit 1968 oder noch besser seit 1975) nämlich Denken deine Krankheit sagte meine Schwester Caroline (eine Gymnasiallehrerin was lehren sie heute nur dort) am JFK-Airport zum Abschied ich war aber mehr mit Lotta beschäftigt Sabrinas Lieblingscousine mit der sie die Reise nach München über die Alpen nach Italien unternommen hatte vor ihrem Studium es war eine völlig ergebnislose Beschäftigung ich habe kaum mit Lotta geredet ich sah ihr fast nichts an es ist etwas das ich doch aus so vielen Lehrerjahren kennen sollte nämlich wie schwer es ist in die Welt eines jungen Menschen hineinzufinden
    der selbst noch kaum Fuß gefasst hat ich kann immer noch nicht wieder joggen ich starre die Läufer auf dem Bürgersteig oder im Central Park an wie ein Toter es sei nur noch ein
    Treiben ein Dahintreiben
    durchs Leben sagte Amandas Mutter Cynthia wie eine Vorwegnahme des großen Flusses in den wir einmal alle geraten werden eine uns gemäße und unweigerlich

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