Septimus Heap 04 - Queste
Observatorium abgetrennt war (denn Jenna hatte die Tür einst in Schokolade verwandelt), hatte er oft stundenlang unter der Bettdecke beim Schein einer Glühraupenlampe gelesen. Einmal hatte Simon das Licht bemerkt und ihn damit aufgezogen, dass er sich im Dunkeln fürchte, doch im Unterschied zu sonst hatte sich Merrin nicht von ihm reizen lassen. Ihm war daran gelegen, dass Simon sich nicht weiter um das Licht kümmerte, das bis in die frühen Morgenstunden brannte. Sollte Simon doch glauben, was er wollte. Eines Tages würde er schon dahinterkommen, dass er, Merrin, keine Angst vor der Dunkelheit hatte – oder vor Schwarzer Magie.
Jetzt entzündete Merrin alle Kerzen, die er finden konnte – Simon knauserte mit Kerzen und duldete nicht, dass mehrere gleichzeitig brannten –, und verteilte sie im weiten Rund des Observatoriums. Das Halbdunkel, in das die Rollos den Raum getaucht hatten, wich warmem Kerzenlicht. Merrin redete sich ein, er tue das nur, weil er Licht zum Lesen brauche. Aber ein wenig hatte Simon schon recht: Er mochte die Dunkelheit nicht, schon gar nicht, wenn er allein war.
Merrin beschloss, es sich ein wenig gemütlich zu machen. Er ging in die kleine Küche und suchte die restlichen Pasteten zusammen, die Lucy gebacken hatte. Er fand zwei mit Fleisch und Niere, eine mit Huhn und Pilzen und eine zermatschte Apfeltasche. Dann goss er sich einen großen Becher von Simons Apfelmost ein, stellte alles auf den kleinen Tisch neben seinem schmalen Bett mit der klumpigen Matratze und legte ein paar muffig schmeckende Stücke von der Schokoladentür dazu, die er in einer schmutzigen Ecke unter dem Bett gefunden hatte. Zu guter Letzt holte er die dicke Wolldecke von Simons Bett. Er fror nicht gern, tat es hier aber meistens, weil im Observatorium, das tief in das Schiefergestein gehauen war, immer eine eisige Kälte herrschte.
Er freute sich darauf, den ganzen Tag nur das zu tun, wozu er Lust hatte. Er wickelte sich in die Decke, legte sich auf das Bett, ohne vorher die Schuhe auszuziehen, und fiel über seinen Essensberg her. Am späten Vormittag lag Merrins Buch auf dem Boden, und er selbst schlief tief und fest inmitten von Pastetenkrümeln, schimmligen Schokoladenklumpen und verschmähten Nierenstücken. Seit Simon ihm erklärt hatte, was Nieren eigentlich taten, ekelte er sich davor.
Nacheinander brannten alle Kerzen im Observatorium herunter, doch Merrin schlief weiter, bis das Zischen der letzten erlöschenden Kerze ihn aus dem Schlaf riss. Panische Angst ergriff ihn. Die Nacht war hereingebrochen. Es war stockfinster, und er konnte sich nicht erinnern, wo er war. Er sprang aus dem Bett und stieß gegen den Türpfosten. Im Zurücktaumeln bemerkte er einen dünnen Mondstrahl, der durch einen Schlitz zwischen den Rollos drang und auf die weiße Scheibe der Camera obscura fiel. Wieder etwas ruhiger, zog er seine Zunderbüchse hervor und zündete frische Kerzen an. Bald erstrahlte das Observatorium wieder in warmem Kerzenlicht und verströmte fast einen Hauch von Behaglichkeit. Doch was Merrin nun plante, hatte mit Gemütlichkeit so wenig zu tun, wie man sich nur vorstellen konnte.
Er hob den Schwarzen Index vom Boden auf und schlug die letzte Seite auf, deren Überschrift lautete:
Wie man mit der Macht des doppelgesichtigen Ringes
das Schicksal eines anderen verdunkelt
oder seinen Feind zugrunde richtet.
Eine bewährte und vom Verfasser
mit großem Erfolg angewandte Methode.
Merrin kannte diesen Abschnitt auswendig, aber er hatte noch nie weitergelesen, denn in der nächsten Zeile stand:
Lies nicht weiter, eh du zum Handeln bereit,
Sonst droht dir Unheil noch vor der Zeit.
Merrin schluckte. Jetzt war er zum Handeln bereit. Er hatte ein trockenes Gefühl im Mund und leckte sich die Lippen. Sie schmeckten unangenehm nach alter Pastete. Er holte sich ein Glas Wasser, trank es in einem Zug leer und fragte sich, ob er die ganze Sache nicht lieber auf morgen Abend verschieben sollte. Doch die Aussicht auf einen weiteren trostlosen Tag allein im Observatorium war wenig verlockend. Außerdem konnten Simon und Lucy jederzeit zurückkommen. Nein, er musste es jetzt tun. Und so las er mit einem mulmigen Gefühl im Magen weiter:
Zuvörderst beschwörst du dein Helfergespenst.
Merrins Herz begann zu klopfen. Das Helfergespenst beschwören! Das hatte nicht einmal Simon gewagt. Doch nun, da er angefangen hatte, hatte er nicht den Mut, wieder aufzuhören. Die Buchseite war unten so nach innen gefaltet,
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