Septimus Heap 04 - Queste
schlechten Luft zu flackern, doch er zwang sich weiterzugehen, tiefer in den Schrank hinein. Die Flamme wurde kleiner, und bald brannte sie nur noch mit einem matten roten Schein. Merrin bekam es mit der Angst zu tun. Wenn für die Flamme zu wenig Luft da war, dann war bestimmt auch für ihn zu wenig Luft da. Er verspürte eine leichte Benommenheit und vernahm ein hohes Sirren in den Ohren. Er tat noch ein paar Schritte, dann erlosch die Kerze. Einen kurzen Augenblick noch sah er ein rotes Glimmen an der Spitze des Dochts, dann war stockfinstere Nacht.
Merrin schnürte es die Brust zusammen. Er öffnete den Mund weit und wollte Luft holen, doch es war keine da. Er begriff, dass er aus dem Schrank hinausmusste, und zwar schnell. Keuchend machte er kehrt – und lief direkt in ein Gespenst hinein, das reglos hinter ihm stand. In blindem Schrecken zwängte er sich an ihm vorbei, doch da stand schon das nächste im Weg, und dahinter noch eines. Entsetzt begriff er, dass er in der Falle saß. Der lange schmale Schrank war vollgestopft mit Gespenstern, und wahrscheinlich versuchten immer noch welche hereinzukommen. Und so war es auch. Draußen drängte sich eine erregte Menge von Gespenstern, die sich gegenseitig stießen, kratzten und schlugen, weil jedes als nächstes hineinkommen wollte. Panische Angst ergriff Merrin, und dann geschah etwas Seltsames: Der Boden des Schrankes sprang zu ihm herauf und stieß gegen seinen Kopf.
Als Merrin wieder zu sich kam, lag er auf den kalten Schieferfliesen im Observatorium.
Benommen schlug er die Augen auf, und sechsundzwanzig Gespenster starrten auf ihn herab. Normalerweise genügte der Blick von sechsundzwanzig Gespenstern, um einen Menschen in tiefste Verzweiflung zu stürzen, doch Merrins Blick war noch getrübt. Er sah nur eine verschwommene wogende Masse, die ihn umgab wie eine hohe Dornenhecke.
Langsam wurde Merrin gewahr, dass etwas neben ihm auf dem Fußboden lag. Er drehte den Kopf, was ihm Schmerzen verursachte, und sein Blick fiel auf einen schmutzigen Leinensack. Einen Müllsack. Und in dem Sack bewegte sich etwas, wie ein Wurf Kätzchen.
Mit einem Mal hellwach, sprang Merrin auf, packte den Sack und stülpte ihn um. Ein Knäuel weicher, schleimiger Knochen purzelte heraus, und der kleine dicke Knochen, an dem der Ring steckte, glitt mit einem metallischen Klirren über den Boden. Merrin starrte ihn entgeistert an. Was sollte er jetzt tun? Neben seinem Fuß zuckte ein Knochen. Er schrie auf. Wie blinde Würmer ringelten sich die Knochen am Boden, jeder auf der Suche nach seinem Nachbarn. Sie setzten sich wieder zusammen!
Ein knochiger Finger stach ihn in die Rippen, und wieder schrie Merrin auf. DomDaniel stieß ihn an. Er würde steeerben! Der schwarze Index wurde ihm vor das Gesicht gehalten, und mit Erleichterung erkannte Merrin, dass der knochige Finger einem Gespenst gehörte. Gehorsam las er die Stelle, auf die der Finger des Gespenstes deutete:
Zieh den Ring mit dem Doppelgesicht
Vom Daumen dessen,
Der ihn besessen.
Doch andersrum entferne ihn,
Dann wird er dein sein fürderhin.
Merrin trat zu dem kleinen schleimigen schwarzen Knochen, an dem der doppelgesichtige Ring steckte, und blickte voller Abscheu auf ihn hinab. Er musste all seinen Mut zusammennehmen, um ihn aufzuheben. Eins, zwei, drei – er konnte es nicht tun. Doch, er konnte, er musste es tun. Eins ... zwei... drei... Igitt! Er hatte ihn. Der Daumenknochen war weich – wie Knorpel. Es war eklig. Er musste würgen.
Ein paar Sekunden später ergriff Merrin, mit einem schlechten Geschmack im Mund, den doppelgesichtigen Ring. Er wusste, dass er ihn über das untere Ende des Knochens abziehen musste – andersrum. Er zog. Der Ring blieb an dem breiteren Knochenwulst hängen, dort, wo einst das Gelenk war. Merrin kämpfte gegen die aufkommende Panik an. Das Ding wollte nicht abgehen. Bald würde sich DomDaniel zusammengesetzt haben und Hackfleisch aus ihm machen. Mit dem Mut der Verzweiflung zückte er sein Taschenmesser, legte den Daumenknochen auf den Boden und sägte den Wulst hinten ab. Eine zähe schwarze Flüssigkeit quoll aus dem Knochen, und der doppelgesichtige Ring fiel herunter.
Mit fasziniertem Grauen hob Merrin den Ring auf und betrachtete den Reif aus Gold mit den in Jade geschnitzten boshaften Gesichtern, die in entgegengesetzte Richtungen blickten. Mit zitternden Händen zog er den Schwarzen Index zurate:
Auf den Daumen der Linken,
Den einzig richtigen,
Steck nun den Ring,
Den
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