Septimus Heap 04 - Queste
Simon plötzlich aufschreien hörte. Beinahe wäre ihm der Bissen im Hals stecken geblieben – Simon schrie sonst nie. Nach Atem ringend und hustend stürzte er ins Observatorium, und dort bot sich ihm ein wahrhaft furchterregender Anblick: Ein Haufen Knochen, die wie aus Gummi aussahen und von schwarzem Schleim glänzten, verfolgte Simon langsam staksend durch das Observatorium. Einen Müllsack wie einen Schutzschild vor sich hinhaltend, wich Simon vor ihm zurück, einen Ausdruck tiefsten Entsetzens im Gesicht.
Merrin wusste sofort, wem die Knochen gehörten – seinem alten Meister DomDaniel. Es war der Ring, der es ihm verriet. Der klobige, doppelgesichtige Ring aus Jade und Gold, den DomDaniel stets am Daumen getragen hatte, stach leuchtend von den schwarz glänzenden Knochen ab. »Dieser Ring«, hatte DomDaniel einmal zu ihm gesagt, »ist unvergänglich. Wer ihn trägt, ist unsterblich. Ich trage ihn, also bin ich unsterblich. Denk immer daran, Junge!« Er hatte gelacht und mit seinem dicken rosigen Daumen vor Merrins Gesicht herumgewackelt.
Merrin beobachtete, wie der Haufen Knochen den entsetzten Simon in die Enge trieb. Er lauschte. Aus dem Innern des Haufens drang ein eintöniger Vernichtungsgesang, der direkt gegen Simon gerichtet war. Am liebsten hätte sich Merrin sofort zu einer Kugel zusammengerollt, ohne dass er wusste, warum. Zu seinem Glück erinnerte er sich nicht an jenen Tag in den Marram-Marschen, an dem DomDaniel genau denselben Gesang gegen ihn gerichtet hatte.
Während der Gesang sich unerbittlich seinem Ende zuneigte – bei dem Simon wie ein Schatten vergehen würde –, sah Merrin, wie mit Simon Heap eine Veränderung vor sich ging. Aber nicht die von DomDaniel beabsichtigte. Plötzlich wich die Angst in Simons Augen unbändiger Wut. Merrin kannte diesen Blick und wusste, dass er nichts Gutes bedeutete.
Und tatsächlich. Mit der blitzartigen Geschwindigkeit eines Schmetterlingssammlers, der ein Prachtexemplar erhascht, schleuderte Simon seinen Müllsack gegen die Knochen und stieß dazu eine magische Verwünschung aus. Die Knochen fielen in sich zusammen, und ein paar kullerten über den Fußboden, doch der Gesang verstummte nicht. In panischer Angst sammelte Simon die verstreuten Knochen ein und warf sie in den Sack, so wie er es Minuten zuvor noch mit dem Unrat getan hatte. Der schwarzmagische Gesang hielt an, nun gedämpft durch den Sack.
In wilder Verzweiflung warf Simon den letzten Knochen in den Sack. Dann rannte er, als ginge es um sein Leben – was es ja auch tat quer durch das Observatorium, riss die Tür zum Endlosschrank auf, schleuderte den Sack hinein, knallte die Tür wieder zu und verriegelte sie mit einem Zauber. Dann knickten, sehr zu Merrins Freude, seine Beine unter ihm ein, und er fiel wie ein nasser Sack zu Boden. Merrin hatte damals den Augenblick genutzt, um die Würstchen vollends aufzuessen.
Aber jetzt sollte er diese scheußlichen Knochen wiedersehen. Und ihnen, was noch schlimmer war, den Ring abnehmen. Doch am allerschlimmsten war, dass er dazu in den Endlosschrank gehen und nach ihnen suchen musste. Davor grauste es ihn. DomDaniel höchstpersönlich hatte den Endlosschrank gebaut. Er diente der Beseitigung schwarzmagischer Gegenstände, die man nicht mehr benötigte oder die sich nicht entzaubern ließen. Der Schrank schlängelte sich tief in das Innere des Gesteins, und wenn er in Wirklichkeit auch nicht endlos war, so reichte er doch kilometerweit.
Merrin schluckte schwer. Er wusste, was er zu tun hatte. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Zitternd murmelte er den Entriegelungszauber, griff nach dem unscheinbar aussehenden Messingknauf der Schranktür und zog daran. Die Tür ging auf. Merrin taumelte zurück. Eiskalte Luft schlug ihm entgegen, und mit ihr ein übler Gestank nach nassem Hund und faulendem Fleisch mit einer Spur verbranntem Gummi. Er würgte und spuckte angeekelt aus.
Mit einem unheilvollen Gefühl spähte er in das Dunkel. Der Schrank schien leer, doch er wusste, dass er nicht leer war. Der Endlosschrank konnte Gegenstände verschieben und beförderte diejenigen, die am stärksten magisch verseucht waren, tief in das Innere des Berges. Merrin mochte gar nicht daran denken, wie weit er wohl die Knochen fortgeschafft hatte.
Er hob die Kerze über seinen Kopf und trat hinein. Der Schrank wand sich durch das Gestein wie eine Ranke. Je weiter Merrin kam, desto kälter wurde es. Nach zehn oder zwölf Schritten begann die Kerze in der
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